Wien: Kritik an geplanter Videoüberwachung zur Verkehrsberuhigung

Verkehrskamera
Um die Überwachung umzusetzen, ist zunächst eine Änderung der Straßenverkehrsordnung notwendig. (Quelle: IMAGO / All Canada Photos)

Die Stadt Wien plant eine Videoüberwachung im ersten Bezirk mit dem Ziel, den Verkehr in der Innenstadt zu reduzieren. Sechs NGOs üben nun scharfe Kritik an diesen Plänen: Das Konzept sei weder verkehrspolitisch tauglich, noch mit dem Datenschutz vereinbar.

Künftig sollen nur noch bestimmte Personengruppen in die Innenstadt fahren dürfen: Anwohner des ersten Bezirks und Personen, die in öffentlichen Parkhäusern parken, Lieferverkehr, Einsatzfahrzeuge und städtische Dienste. Die Stadtverwaltung will so mehr Platz für Grünraum schaffen sowie Verkehrslärm und CO2-Emissionen reduzieren. Der Plan sieht vor, mit Kameras zu kontrollieren, welche Fahrzeuge in den Bezirk fahren oder ihn verlassen. Nach Angaben der österreichischen Tageszeitung Der Standard sollen die Ergebnisse einer von der Stadt in Auftrag gegebenen Machbarkeitsstudie bis zum Sommer vorliegen.

In einem offenen Brief an die Verkehrsstadträtin Ulrike Sima (SPÖ) und die Bundesumwelt- und Verkehrsministerin Leonore Gewessler (Grüne) warnen nun sechs Umwelt-, Datenschutz- und Menschenrechtsorganisationen vor negativen Auswirkungen auf die Grund- und Menschenrechte, sollte die Technik zum Einsatz kommen. Unterzeichnet haben den Brief unter anderem Amnesty International Österreich, der Chaos Computer Club Wien und Epicenter Works.

Auch Fußgänger könnten erfasst werden

Nach Angaben der Organisationen sollen “an fast allen der 38 Zufahrten vom Ring in den ersten Bezirk” Videokameras installiert werden, um “damit automatisch die Kennzeichen aller zu- und abfahrenden Autos zu erfassen”. Bestraft werden sollen etwa Personen, die nicht im ersten Bezirk wohnen, dort Hotelgäste sind oder Waren anliefern. Straffrei sollen Personen bleiben, die zwar nicht unter die vorgesehenen Ausnahmen fallen, aber den Bezirk innerhalb von 30 Minuten wieder verlassen oder ihr Fahrzeug in einem Parkhaus abstellen.

Thomas Lohninger von Epicenter Works kritisiert: “Flächendeckend Videokameras im dicht besiedelten Stadtgebiet aufzustellen, ist aus Sicht des Datenschutzes ein Wahnsinn. Wenn Wien nicht in Richtung China samt Überwachung der dortigen Bevölkerung gehen will, sollte man schleunigst Abstand von diesen Überwachungsphantasien nehmen.”

Die Unterzeichner bezweifeln, dass die Technik so ausgestaltet werden kann, dass die Kameras nur Kennzeichen erfassen – und nicht auch Bilder des Fahrzeugs, der Person am Lenkrad sowie von Fußgängern oder Radfahrern.

Weil Autos, die den Bezirk innerhalb von 30 Minuten wieder verlassen, nicht bestraft werden sollen, müsse das System zudem zentral vernetzt sein. Damit schaffe die Stadt Wien “einen Datenberg”, der Begehrlichkeiten wecken könnte. Die NGOs warnen, künftig könnten die Daten auch für andere Zwecke verwendet werden. Das österreichische Sicherheitspolizeigesetz enthalte bereits eine Rechtsgrundlage, um die Kamerabilder in Echtzeit ohne konkreten Verdacht an Sicherheitsbehörden weiterzuleiten. Dafür brauche es auch keine Genehmigung eines Richters oder des Rechtsschutzbeauftragten des Innenministeriums.

Lohringer mahnte: “Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Polizei und Geheimdienst Zugang zu den Daten aus diesem Videoüberwachungssystem bekommen werden. Die Rechtsgrundlage für die Echtzeitübertragung dieser Daten an das Innenministerium gibt es bereits seit dem Überwachungspaket von 2018.”

Regelmäßige Demonstrationen im Bezirk

Die Autorinnen und Autoren des offenen Briefes befürchten außerdem eine abschreckende Wirkung durch die Überwachung: Am Regierungssitz fänden im ersten Bezirk regelmäßig Demonstrationen und Kundgebungen statt. Deren Teilnehmerinnen und Teilnehmer könnten ebenfalls von den Kameras aufgenommen werden. “Im schlimmsten Fall” würden Menschen aufgrund der Kameraüberwachung “seltener von ihrem Grundrecht auf Versammlungsfreiheit Gebrauch machen”.

Die Stadt Wien betonte gegenüber dem Standard, die Aufnahmen würden bei legaler Einfahrt unmittelbar abgeglichen und gelöscht. Fußgänger und Demonstrierende würden nicht erfasst. Es handle sich um eine Maßnahme im Sinne des Klimaschutzes.

Aus Sicht der Organisationen wäre es allerdings “verkehrspolitisch zielführender und weitaus billiger”, einen Teil der Parkplätze im ersten Bezirk anders als bisher zu nutzen. Die österreichische Klimaaktivistin Lena Schilling kommentierte: “Die Behauptung eine vollständige Überwachung des 1. Bezirkes würde das Verkehrsproblem in der Innenstadt lösen, ist schlichtweg falsch. Was Menschen brauchen, sind flächendeckende, zugängliche und günstige Alternativen zum Autoverkehr, in Außenbezirken wie in der Innenstadt. Vorschläge, wie das passieren kann, gibt es seit Jahren genug. Von Senkung des Tempolimits, Rückbau von Parkplätzen über Fahrradabstellplätze zu gratis Öffis liegen ausgearbeitete Konzepte auf dem Tisch.”

NGOs fordern Aufgabe der Pläne

Die Organisationen fordern die Stadt Wien auf, von den Plänen Abstand zu nehmen. Stadträtin Ulrike Sima solle nicht “den Klimaschutz als Ausrede für ihre Überwachungsphantasien vorschieben”. Es gebe tauglichere und menschenrechtskonformere Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung. Eine Videoüberwachung des Stadtteils mit den meisten Regierungsgebäuden und Demonstrationen, könne kaum das mildeste Mittel im Sinne einer weltoffenen Stadt sein.

Sowohl die Stadt Wien als auch das Verkehrsministerium verwiesen gegenüber dem Standard darauf, dass es ähnliche Projekte bereits in anderen europäischen Städten gebe – beispielsweise in Italien. Auch dort müsse die europäische Datenschutzgrundverordnung eingehalten werden. Die NGOs schreiben hingegen, in Italien gebe es “sehr schlechte Erfahrungen”. So hätten Strafverfolger in Siena die Verkehrsüberwachung missbraucht, um eine Frau auszuspionieren – die Beteiligten seien zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Um den Zugriff der Sicherheitsbehörden auf das italienische System herrsche ein andauernder Rechtsstreit.

Der Standard berichtet, eine Rechtsgrundlage für die Zonenkontrolle mit Kameras müsse in Österreich ohnehin erst noch geschaffen werden. Dafür müsste die Straßenverkehrsordnung auf Bundesebene geändert werden. “Um die rechtlichen Rahmenbedingungen zu klären und eine Basis für eine mögliche Gesetzesnovelle zu legen”, werde das Verkehrsministerium auch ein Rechtsgutachten beauftragen. Die NGOs fordern, Klima- und Verkehrsministerin Leonore Gewessler sollte die Überwachung nicht legalisieren. (js)