Recherche enttarnt CO2-Zertifikate als wirkungslos

Regenwald
Die meisten Waldschutzprojekte von Verra sollen nur einen Bruchteil der per Zertifikat ausgewiesenen CO2-Emissionen einsparen. (Quelle: Dukeabruzzi – CC BY-SA 4.0)

Die Klimaneutralität eines Unternehmens ist auf dem Papier heutzutage schnell erreicht: Weiter wirtschaften wie zuvor – und CO2-Zertifikate in Höhe der eigenen Emissionen einkaufen. Das verspricht zumindest die Firma Verra, der weltweit führende Anbieter von privat gehandelten CO2-Zertifikaten. Internationale Konzerne wie VW, Shell, Disney und Apple haben bei Verra Zertifikate in Millionenhöhe gekauft, um sich ein grüneres Image zuzulegen.

Doch ein Großteil dieser Zertifikate soll nahezu wertlos sein und keineswegs den Gegenwert in Form von eingespartem Kohlenstoffdioxid bringen. Das haben nun gemeinsame Recherchen der Wochenzeitung Die Zeit, der Tageszeitung The Guardian und der Rechercheplattform SourceMaterial ergeben. Sie haben mit Unterstützung von Expertinnen und Experten monatelang interne Projektunterlagen von Verra untersucht und Studien internationaler Forscherteams ausgewertet.

Das Ergebnis: 94 Prozent der von Verra ausgestellten Zertifikate sollen wertlos sein. Die Forscherteams haben 29 der 87 durch Verra zertifizierten Waldschutzprojekte in den Tropen untersucht. Nur bei acht der Projekte hätten die Experten Hinweise auf eine bedeutende Verringerung der Entwaldung festgestellt; bei 21 fehlte der Nutzen fürs Klima.

89 Millionen Tonnen an angeblich kompensiertem CO2 sollen zwar berechnet, aber nie wirklich eingespart worden sein – das entspricht in etwa dem jährlichen Ausstoß von Griechenland und der Schweiz zusammen. Die Zahl bezieht sich nur auf die untersuchten Projekte – die tatsächliche Menge an nicht kompensierten Emissionen dürfte daher weit höher liegen.

Kunden von Verra (Auswahl)

Shell
Gazprom
Apple
Netflix
SAP
Nestlé
Unilever
Volkswagen 
Boeing
dm
Zalando
Gucci 
Allianz 
Fjällräven

Die fehlenden Kompensationen sind laut Zeit nicht nur eine verpasste Chance, das Klima zu schonen. Sie verursachten sogar weiteren Schaden. Bei einigen Unternehmen seien die Emissionen gestiegen, nachdem Verra-Zertifikate gekauft wurden. “Weil ein Zertifikat auch ein Freifahrtschein sein kann, mehr auszustoßen als zuvor”, schreibt die Zeitung.

Auch an den Projekten beteiligte Personen beschrieben in Interviews mit dem Rechercheteam Missstände. Der Ökologe Lucio Pedroni beispielsweise hat eines der Regelwerke für Verra verfasst, mit denen die Effektivität der zu zertifizierenden Projekte beurteilt wird. Er gab gegenüber den Redakteuren zu: “Leider wurde das System, das Verra aufgebaut hat, von einigen missbraucht, was bei einigen Pro­jekten zu überhöhten Prognosen geführt hat.”

Verra ist der weltweit führende Zertifizierer mit rund 75 Prozent Marktanteil und legt die Regeln fest, nach denen Schutzprojekte ihren Beitrag zum Klimaschutz bewerten lassen. Für diesen erhalten sie Zertifikate, die sie über Händler an Firmen verkaufen können.

Ein Großteil dieser Projekte soll den Recherchen zufolge aber systematisch und massiv ihren positiven Einfluss auf das Klima überbewertet haben – im Schnitt um das Zehnfache.

Der Vorwurf: Für die Bewertungen würden fragwürdige Methoden angewandt, mit denen deutlich höhere CO2-Einsparungen errechnet werden, als es in der Realität der Fall ist. Auch steht die grundlegende Idee in der Kritik, Treibhausgase einsparen zu können, indem bestehende Wälder angeblich über viele Jahrzehnte hinweg intakt gehalten würden.

Fragwürdige Kompensation

Folgende Logik steht hinter den Waldschutz-Zertifikaten: Wälder entziehen der Atmosphäre CO2, solange sie intakt sind. Wird Wald abgeholzt, entweicht mehr CO2 in die Atmosphäre. Also kaufen die Projektbetreiber von Abholzung oder Schädigung gefährdete Waldstücke, um sie unangetastet arbeiten zu lassen. Wichtig: Hier geht es nicht um die Neupflanzung von Wäldern, sondern um bereits bestehende Ökosysteme.

Damit die Idee des Waldes als dauerhaft kompensierender CO2-Filter funktioniert, müssen die Bäume allerdings über lange Zeit hinweg intakt bleiben. Sie dürfen nicht abgeholzt oder durch Schadstoffe geschwächt werden; Naturkatastrophen wie Stürme oder Brände dürfen nicht über sie hereinbrechen. Das Klima in der Region muss ebenfalls stabil genug bleiben, damit sie überleben. Das kann kein Betreiber garantieren: Gehen die Bäume zugrunde, entweicht das gespeicherte CO2 doch in die Umgebung und es wurde nichts kompensiert.

Es bleibt ein großes Risiko, dass die Pflanzen nicht die Menge an Treibhausgasen aufnehmen werden, die von den Projektbetreibern prognostiziert wurde. 

Dennoch wird den Unternehmen, die die Zertifikate erwerben, direkt mit dem Kauf das gesamte künftig – eventuell – eingesparte CO2 gutgeschrieben, sozusagen in Vorleistung.

Fantasierechnungen

Doch selbst wenn die Bäume überleben, ist es den Recherchen zufolge höchst fraglich, dass die Projekte tatsächlich so viel Wald vor der Abholzung bewahren, wie versprochen. Denn die Projektbetreiber selbst geben an, wie viel Vernichtung in den bewahrten Waldstücken in den kommenden Jahrzehnten zu erwarten gewesen wäre. Um so höher diese Spekulation ausfällt, umso mehr Zertifikate kann der Anbieter herausgeben.

Welchen Regeln die Betreiber bei der Berechnung folgen, könnten sie selbst entscheiden: Verra biete verschiedene Regelwerke mit unterschiedlichen Bedingungen an. Angewandt werden könne, was besser zu den Gegebenheiten passt.

Verras System gäbe den Betreibern also einen Anreiz, die angeblich zu erwartende Zerstörung unrealistisch hoch anzusetzen. Als Referenz für die Prognose müssten die Projektbetreiber ein Gebiet zum Vergleich anführen, dass dem für den Zertifikatsverkauf ähnelt. An der dortigen durchschnittlichen Abholzung pro Jahr, soll sich die Prognose orientieren. 

Laut Zeit finden sich in internen Projektdokumenten allerdings Beispiele, bei denen die Prognosen teils um ein Vielfaches höher lagen, als in nahegelegenen Referenz-Waldgebieten – laut einer Studie der University of Cambridge aus dem Jahr 2022 wurde die Bedrohung der Wälder im Durchschnitt um etwa 400 Prozent überbewertet.

Im Schutzgebiet Alto Mayo im Norden Perus seien Projektbetreiber von einer Abholzung von 60 Prozent des Waldes innerhalb der nächsten 60 Jahre ausgegangen. Die Zahlen lägen aber viermal höher als in benachbarten Gebieten, die zur Orientierung herangezogen wurden.

Kuriose Projekte

“In den Dokumenten der Organisation tauchen etliche fragwürdige Angaben von Projektbetreibern auf, kuriose Rechnungen und Bluffs, die zeigen, wie beliebig die Verkaufszahl von Zertifikaten sein kann”, schreibt die Zeit. Kuriose Angaben fänden sich unter anderem in den Unterlagen zu Projekten im Südosten Perus. Dort seien “Horror-Szenarien” projiziert worden von einfallenden Goldgräbern und Holzfällern, um Zertifikate im Wert von mehreren Millionen US-Dollar zu generieren.

In der Projektbeschreibung von “Kariba” in Simbawe, dem größten Kompensationsprojekt der Welt, sei davon ausgegangen worden, dass das Waldstück innerhalb der nächsten 30 Jahre vollständig zerstört würde. Dabei sei die Abholzung dort bislang relativ gering ausgefallen.

Ein kleineres Projekt drehte sich um ein Öko-Hotel, schwer erreichbar im peruanischen Dschungel gelegen. Um aufkommende finanzielle Probleme zu lösen, hätten sich die Betreiber eines Tages dazu entschlossen, den Wald in der Umgebung der Unterkunft bis weit in die Natur zu roden. Dann hätten sie aber von dem Zertifikatsystem von Verra erfahren, den Wald stehen gelassen und stattdessen 80.000 Zertifikate darauf verkauft.

Ein von den Redakteuren befragter Ökologe hielt die in den Dokumenten geschilderte Situation für Unsinn. Dass ein Hotelbetreiber plötzlich zum industriellen Holzhändler werde, sei unplausibel. Da keine Straßen zu dem Ort führten, hätte das Holz nicht einmal abtransportiert werden können. Der Hotelbesitzer habe den Redakteuren auf Nachfrage wiederum die Geschichte erzählt, dass er das Gebiet ohne Geld aus dem Zertifikatehandel hätte verkaufen müssen. Was angeblich Rodung zur Folge gehabt hätte.

 

Verra sieht keine Probleme

Verra hat die Vorwürfe als falsch zurückgewiesen. Die Diskrepanz zwischen den durch Zertifikate gedeckten CO2-Mengen und den von Wissenschaftlern prognostizierten Emissionsminderungen sei damit zu erklären, dass die verwendeten Methoden lokale Faktoren nicht berücksichtigt hätten.

Im Gespräch mit der Zeit schloss ein Verra-Sprecher nicht aus, dass Projekte überbewertet sind. Dieser Fehler werde aber durch andere, in ihren Emissionen unterbewertete Projekte ausgeglichen.

Doch die Unwägbarkeiten bei der Kompensation mit bestehenden Wäldern sind nicht von der Hand zu weisen: Die Weltgemeinschaft hat sich deshalb schon vor Jahrzehnten dagegen entschieden, den Schutz bestehender Wälder für staatliche Kompensationen zuzulassen. Die UN hat 1997 im Kyoto-Protokoll definiert, welche Bedingungen Projekte erfüllen müssen, um sich für staatliche Treibhausgaskompensation zu eignen. 2003 schufen NGOs wie WWF und Fairtrade zudem den sogenannten Gold Standard, nach dem sich Klimaschutzprojekte zertifizieren lassen. Beide Zertifizierungsprogramme schließen den Waldschutz als zu riskant aus. Anerkannt sind hingegen der Ausbau Regenerativer Energien oder die Neupflanzung von Bäumen.

Im Jahr 2006 entwarfen Wirtschaftsvertreter den Standard, nach dem Verra zertifiziert; mit einem Regelkatalog, der sich nicht am Kyoto-Protokoll orientierte. Mit an Bord waren unter anderem das Weltwirtschaftsforum in Davos und zahlreiche Unternehmen. (hcz)