Rezension: Permanent Record - die Geschichte Edward Snowdens
Bis er sich gegen das Überwachungssystem wendet, beschreibt Snowden sich selbst als patriotischen, pflichtbewussten Amerikaner: Seine Ahnengeschichte geht bis auf die ersten Siedler an Bord der Mayflower zurück. Beide Eltern waren im Staatsdienst tätig. Sein Vater arbeitete für die Küstenwache, seine Mutter unter anderem für ein Unternehmen, das NSA-Mitarbeiter versichert. Laut Snowden hätten sie ihn sicher von seinen Plänen abgebracht, wenn sie von ihnen gewusst hätten. Snowden selbst strebte zunächst eine Karriere bei den Spezialkräften der US-Militärs an. Er unterbrach sogar sein Informatikstudium, um in den zweiten Irakkrieg zu ziehen – so sehr hatte ihn der 11. September 2001 geprägt. Allerdings wurde er bereits als Rekrut ausgemustert, nachdem er sich beim Training beide Beine gebrochen hatte.
Zweifelnder Staatsdiener
Sein Wille dem Staat zu dienen, blieb aber erhalten. Und so entschied er sich, vom Schreibtisch aus als IT-Sicherheitstechniker für die Geheimdienste CIA und NSA zu arbeiten. Trotz abgebrochenen Studiums steigt er schnell auf und ist in den Jahren 2007 bis 2009 in der Schweiz und in Japan tätig. Erst seine Position ab dem Jahr 2009 auf Hawaii als Systemadministrator bei der NSA erlaubt ihm aber, Dokumente systematisch zu sammeln und das Gesamtbild der Überwachung zu erfassen. Unter dem Vorwand, ein Mitarbeiterinformationssystem aufzubauen, sammelt er automatisiert Dokumente aus den Geheimdienstnetzwerken.
Dieser Hintergrund macht die Frage umso interessanter, warum sich Snowden eigentlich von dem von ihm unterstützten System abgewendet hat – und wie diese Entwicklung abgelaufen ist. Die Beweggründe beschreibt er recht eindrücklich: Er konnte es nicht mehr ertragen, Teil eines Systems zu sein, das die Privatsphäre der Bürger aufs schärfste missachtet. Er konnte auch nicht mehr mit Kollegen zusammenarbeiten, die nur mit den Achseln zuckten, als er sie darauf hinwies, dass sie mit ihrer täglichen Arbeit gegen abgelegte Eide und die US-amerikanische Verfassung verstießen.
Snowdens selbstnacherzähltes Leben zeichnet einen klaren roten Faden bis zu den Enthüllungen, die den NSA-Skandal auslösten. Bereits als Kind habe er gehackt. Hier wurde dem Storytelling sicherlich etwas auf die Sprünge geholfen. Andererseits ergibt sich ein solches Gesamtbild des eigenen Lebens und Handelns meist erst bei der Betrachtung mit einem zeitlichen Abstand; und eventuell erscheint Snowden sein Leben tatsächlich so schicksalhaft vorprogrammiert. Dass etwas Pathetik und Selbstglorifizierung in die Schilderungen Snowdens einfließt, lässt sich verzeihen. Schließlich gab er alles auf, ohne davon persönlich profitieren zu wollen. Ohne starke Prinzipien und damit verbundene Emotionen hätte er schlussendlich nicht so gehandelt.
Das Ende der Lethargie
Ein weiterer Wendepunkt für Snowdens Gesinnung spielte sich ausgerechnet auf der heimischen Couch seiner Mutter ab: Snowden litt in der zweiten Jahreshälfte 2011 immer wieder an epileptischen Anfällen, die gelegentlich zu stundenlanger Ohnmacht führten. Er durfte unter anderem nicht Auto fahren und ließ sich für seinen Job beim Geheimdienst krankschreiben. Im abgedunkelten Zimmer versuchte er die Nebenwirkungen seiner Epilepsie-Medikamente auszusitzen: Lethargie und Depression. Im Dämmerzustand fand er gerade die Kraft, immer mal wieder auf seinem Handy durch die aktuellen Nachrichten aus Nahost zu scrollen – es war die Zeit des Arabischen Frühlings.
Snowden las über die Forderungen der Demonstranten, Unterdrückung und Zensur zu beenden. Sie wünschten sich eine gerechte Gesellschaft, in der nicht das Volk der Regierung untersteht, sondern die Regierung dem Volk. Trotz seines desolaten gesundheitlichen Zustands wuchs in Snowden der Wunsch, den Demonstrierenden zu helfen. Schließlich beschreibt er, wie er seine Untätigkeit überwindet und einen Server einrichtet, der es Iranern erlaubt, die Internetblockade des Landes zu umgehen.
Ob sich diese und andere Ereignisse schlussendlich direkt auf Snowdens Entscheidung ausgewirkt haben, die Geheimdienstdokumente zu veröffentlichen, kann nur spekuliert werden. Denn einen direkten Zusammenhang zieht der Autor selten und eher subtil. Die letzte Schlussfolgerung bleibt dem Leser überlassen. An diese Szene schließt sich im Buch direkt das dritte Kapitel an, in dem Snowden beschreibt, wie es ihm möglich war, die Daten zu kopieren und zu fliehen.
“Ich war froh als der Bastard tot war.”
Der letzte und dritte Teil des Buches ist gleichzeitig der spannendste. Hier beschreibt der Autor nochmals seine letzten Monate bei der NSA, wie er im sogenannten Tunnel sitzt – einem ehemaligen unterirdischen Flugzeugwerk, das nun der Geheimdienst als Büro nutzt. Dann kommt die Flucht, das Treffen mit Journalisten und der ungeplante lange Aufenthalt in Russland.
Dass sich Snowden trotzdem noch als US-amerikanischen Patriot sieht, wird in Passagen wie der zum Tod von Osama bin Laden deutlich: “Versteht mich nicht falsch”, spricht er den Leser direkt an, “Ich war froh, dass der Bastard tot war.” Solche Einschübe verleihen seinen Taten weitere Glaubwürdigkeit: Hier hat niemand aus Hass auf das eigene Land oder dessen Volk gehandelt. Auch war sein Ziel nie, den USA oder dessen Geheimdiensten Schaden zuzufügen. Edward Snowden deckte die Machenschaften der Geheimdienste aus gutem Willen auf und wollte für mehr Freiheit auf der Welt sorgen. Seinen inneren Druck formuliert er an verschiedensten Stellen: “Ich fand es zunehmend frustierend, dass ich Technik in Ordnung bringen konnte, das Land aber nicht. […] Das Betriebssystem meines Landes – seine Regierung – hatte entschieden, dass es am besten funktionierte, wenn es defekt war.”
Ebenfalls im dritten Teil des Buches kommt eine weiterere Protagonistin zu Wort: Snowdens Freundin Lindsay Mills. Sie schreibt ihr Leben lang Tagebuch und hat auch die Ereignisse während Snowdens Flucht dokumentiert. Als Mills im Frühjahr 2013 von einem Kurztrip nach Hause zurückkehrt, findet sie nur eine handgeschriebene Nachricht Snowdens, dass er auf einer Geschäftsreise sei. Zwei Sätze: “Muss beruflich weg. Ich liebe dich.” Unterzeichnet mit “Echo” – Snowdens Spitzname aus dem Buchstabieralphabet. Danach tagelang keine Informationen, sondern nur Spekulationen. Während Snowdens Mutter sich darüber Sorgen macht, dass Snowden wieder einen epileptischen Anfall gehabt haben könnte, fürchtet Mills, er könnte sie für eine andere Frau verlassen haben.
Die Zeit nach dem Verschwinden Snowdens ist für Mills ähnlich nervenaufreibend und kräftezehrend wie für ihren Freund. Tagelang wird sie bis in die Nacht vom FBI verhört, schwarze Vans folgen ihr auf Schritt und Tritt und in ihren Erzählungen wirkt ein Agent unsympathischer und merkwürdiger als der nächste. Da ist der Typ, der sie ständig angrinst. Der, der sie dauerhaft von oben bis unten abscannt. Und da ist Agent Chuck mit Hosenträgern und Baseballkappe, der ihr in Macho-Manier mit Hand auf der Waffe erklärt, dass er sie beschützen werde, sie aber doch bitte ihren Fahrstil ändern solle. Für die Behörden ist Mills vorerst nur eine Mitverschwörerin. Die Nachrichten zwischen ihr und Snowden halten die Agenten für verschlüsselte Absprachen. Treffend stellt Mills fest: “Die tun so, als hätten sie noch nie eine Beziehung gehabt!” Zwar bekommt Mills Sicht auf die Ereignisse nur 14 Seiten des gesamten Buches eingeräumt, doch reichen diese aus, um die Einsamkeit und Verwirrtheit aller Betroffenen darzustellen.
Fazit
Permanent Record ist keine technische Dokumentation der Ereignisse rund um Snowden. Allzu viele Details über die Arbeit der Geheimdienste erfährt man nicht. Das Buch handelt von Edward Snowden als Person. Er beschreibt seinen Werdegang, seine Gedanken und Emotionen und teilt dem Leser immer wieder seine Überlegungen zu Gesellschaft und Philosophie mit. Dabei ist das über 400 Seiten starke Buch nie langatmig, sondern unterhaltsam, emotional und spannend. Durch die Unterteilung in kurze Szenen, Gedankengänge und Anekdoten lässt es sich leicht konsumieren, ohne beim Leser ständig Paranoia und wachsende Angst vor Überwachung zu hinterlassen.
Wer auf mehr IT-Wissen hofft und sich objektive Beschreibungen der Geheimdienstprogramme wünscht, sollte lieber “Der NSA-Komplex” von Marcel Rosenbach und Holger Stark lesen. Politische Zusammenhänge erklärt “Die globale Überwachung” von Glenn Greenwald besser. (hcz)
Titel: “Permanent Record – Meine Geschichte”
Autor: Edward-Snowden
Gebundene Ausgabe: 432 Seiten
Verlag: S. Fischer; Auflage: 1. (17. September 2019)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3103974825
ISBN-13: 978-3103974829
Preis: 22,00 EUR