UNO-Bericht: Millionen Frauen dürfen nicht über ihren Körper bestimmen
Jeder Mensch sollte Entscheidungen über den eigenen Körper treffen können. Doch fast die Hälfte aller Frauen in 57 Ländern mit mittlerem oder niedrigem Einkommen hat diese Möglichkeit nicht. Das geht aus dem am Mittwoch veröffentlichten Weltbevölkerungsbericht der UN-Organisation für sexuelle und reproduktive Gesundheit (UNFPA) hervor.
Der jährlich erscheinende Bericht widmet sich in diesem Jahr dem Recht auf körperliche Selbstbestimmung und Unversehrtheit von Mädchen und Frauen. Demnach können nur 55 Prozent der Frauen selbst entscheiden, wann sie mit ihrem Partner Sex haben, ob sie Verhütungsmittel einsetzen oder ob sie medizinische Versorgung in Anspruch nehmen.
Diese Tatsache sei empörend, sagte UNFPA-Direktorin Natalia Kanem. “Hunderte Millionen Frauen und Mädchen besitzen ihre eigenen Körper nicht. Ihr Leben wird von anderen bestimmt.”
Dem Bericht liegen Daten zu Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren aus Ländern in Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika zugrunde.
Mali, Niger und Senegal am stärksten betroffen
Die Situation unterscheidet sich je nach Region: So treffen beispielsweise 76 Prozent der jugendlichen Mädchen und Frauen in Ost- und Südostasien sowie in Lateinamerika selbstständige Entscheidungen bezüglich Familienplanung, Gesundheitsversorgung und ihrem Sexualleben. In Zentral- und Südasien sowie in Afrika südlich der Sahara liegt dieser Wert hingegen bei unter 50 Prozent. In Mali, Niger und Senegal treffen sogar weniger als 10 Prozent der Frauen eigenständige Entscheidungen in den genannten Bereichen.
Dabei bedeutet die Entscheidungsfreiheit in einem Bereich nicht gleichzeitig, dass Frauen auch in anderen Bereichen autonom entscheiden können, merken die Autorinnen und Autoren des Berichts an. So können in Äthiopien beispielsweise 94 Prozent der Frauen eigenständig oder mit ihrem Partner über Verhütung entscheiden – doch nur 53 Prozent können Sex ablehnen.
Corona-Pandemie verschlechtert Situation
Zudem werden viele Frauen laut Bericht noch immer Opfer von weiblicher Genitalverstümmelung: Allein im Jahr 2020 wurden 4 Millionen Mädchen und Frauen dieser Praxis unterzogen. Nach Schätzungen der UNFPA könnte es während der Corona-Pandemie zu bis zu 2 Millionen zusätzlichen Fällen kommen. Seit Beginn der Pandemie nahm die weibliche Genitalverstümmelung alleine im kenianischen Geflüchtetenlager Dadaab um etwa 20 Prozent zu. Viele Länder, in denen weibliche Genitalverstümmelung weit verbreitet ist, haben der Problematik während der Pandemie keine Priorität zugemessen.
Die Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen sehen vor, die Genitalverstümmelung bis zum Jahr 2030 zu beseitigen. Doch die Zunahme der Fälle während der Corona-Pandemie könnte diese Bemühungen zurückwerfen, befürchtet die UNFPA.
Auch seien während der Pandemie mehr Frauen und Mädchen als je zuvor von schädlichen Praktiken wie Frühverheiratung bedroht. Weltweit leben heute schätzungsweise 650 Millionen Frauen, die vor ihrem 18. Geburtstag verheiratet wurden. Im Jahr 2020 wurden laut Bericht 12 Millionen minderjährige Mädchen verheiratet. Die Dunkelziffer liegt vermutlich sogar noch höher.
Geschlechtsspezifische Gewalt
Auch andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt prangert der Bericht an. So hätten weltweit 43 Länder keine Gesetze, die Vergewaltigungen in der Ehe unter Strafe stellen. Selbst in Ländern mit entsprechender Gesetzgebung würde Vergewaltigung in der Ehe oft milder bestraft. In einigen Ländern gingen Täter zudem straffrei aus, wenn sie eine von ihnen vergewaltigte Frau heiraten – auch gegen ihren Willen.
Der Bericht zeigt auch, dass Frauen häufiger sexualisierte Gewalt erleben, wenn sie weniger gebildet sind als ihr Partner. Viele Frauen wüssten nicht, dass sie das Recht haben, nein zu sagen.
Wenngleich dem UN-Bericht die Daten ärmerer Länder zugrunde liegen, warnen die Autorinnen und Autoren vor einem weitreichenderen Problem: Bis heute könne kein Land von sich behaupten, die vollständige Gleichstellung der Geschlechter erreicht zu haben. Weltweit hätten Frauen im Durchschnitt nur 75 Prozent der gesetzlichen Rechte, die Männer genießen.
Als Ursache für die Verweigerung körperlicher Selbstbestimmung sieht die UNFPA diskriminierende soziale Normen, die patriarchale Machtsysteme widerspiegeln. Diese würden von der Gesellschaft aufrecht erhalten, könnten durch politische, wirtschaftliche, rechtliche und soziale Institutionen aber noch verstärkt werden.
Um die Gleichstellung der Geschlechter zu erreichen, müssten Regierungen mehr unternehmen, fordert die UNFPA. Außer gesetzlichen Regelungen brauche es auch eine größere finanzielle Unterstützung von Einrichtungen zur Frauenförderung. Zudem müsse eine umfassende Sexualaufklärung gewährleistet werden, um autonome Entscheidungen zu ermöglichen. Ganz wesentlich hänge der Fortschritt aber davon ab, dass Männer ihre Vormachtstellung aufgeben. (js)