Urteil: Russische Internet-Sperren sind unzulässig

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
Dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte lagen vier Beschwerden gegen die russischen Internet-Sperren vor. (Quelle: Cherryx – CC BY-SA 3.0)

Russland verstößt mit der Sperrung oppositioneller Internetseiten nach Ansicht des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) gegen die Meinungsfreiheit. Die Regelungen des zugrunde liegenden russischen Informationsgesetzes hätten übermäßige Auswirkungen, hieß es in der am 23. Juni 2020 veröffentlichten Entscheidung des Gerichts. Außerdem gebe es keinen ausreichenden Schutzmechanismus, um den Missbrauch des Gesetzes zu verhindern, rügte der EGMR. Mit der Sperrung der Webseiten werde zudem das Recht auf Zugang zu Informationen beeinträchtigt.

10.000 Euro Entschädigung

Mehrere Betreiber von Seiten mit regierungskritischen Inhalten, darunter auch Ex-Schachweltmeister und Kreml-Kritiker Garry Kasparow, hatten insgesamt vier Beschwerden beim EGMR eingereicht. Sie erklärten laut Gerichtsunterlagen, dass die Sperrungen unrechtmäßig und unverhältnismäßig erfolgt seien. Russland muss den Betreibern der Seiten nun jeweils 10.000 Euro Entschädigung zahlen.

Zu den Sperrungen kam es laut Gericht aus unterschiedlichen Gründen. So hatte die Polizei in einem Fall eine Webseite blockieren lassen, die beim selben Webhoster lag und unter derselben IP-Adresse erreichbar war, wie die Seite eines Beschwerdeführers. Durch die Sperre war auch seine Internetseite nicht mehr erreichbar. In anderen Fällen wurden ganze Internet-Angebote wegen einzelner Seiten oder Dateien blockiert – oder weil dort zu lesen war, wie man staatliche Internet-Filter umgehen kann.

Sperrung ohne gerichtliche Prüfung

Teilweise blieb eine gerichtliche Prüfung aus. In einem Fall hatte der Betroffene den beanstandeten Inhalt – ein E-Book – nach der Sperrung seiner Seite entfernt. Doch ein russisches Gericht wollte die Blockade nicht aufheben lassen, da sie für die gesamte Seite und nicht nur für das E-Book ausgesprochen worden war.

Die Beschwerden wurden bereits zwischen 2013 und 2015 beim EGMR eingereicht. Der EGMR mit Sitz im französischen Straßburg ist eine Institution des Europarats und keine Einrichtung der Europäischen Union. Das Gericht kümmert sich um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die auch Russland unterzeichnet hat. Die Urteile des EGMR sind für die Staaten bindend.

Organisationen kritisieren Zensur

In Russland sind Hunderte Internetseiten von der Aufsichtsbehörde gesperrt. Betroffen sind etwa auch Portale des finanzkräftigen Kremlgegners Michail Chodorkowski. Laut Gesetz gibt es zwar keine Zensur. Allerdings können die Behörden oft einfach ohne nähere Begründung Inhalte blockieren. Internationale Organisationen wie Human Rights Watch, Amnesty International und Reporter ohne Grenzen beklagen seit langem massive und völlig willkürliche Eingriffe des Staates in das Recht auf Meinungsfreiheit.

Als Folge von großen Protesten nach den russischen Parlamentswahlen 2011 und den Präsidentschaftswahlen 2012, hat die russische Regierung vermehrt Internet-Angebote ins Visier genommen, berichtet etwa Reporter ohne Grenzen. Dafür wurden zwischen 2012 und 2019 verschiedene Gesetze verabschiedet.

Sperren per Gesetz

Für Aufsehen sorgte 2019 beispielsweise ein Gesetz, mit dem der gesamte Internet-Verkehr in Russland kontrolliert werden kann. Der Chef der russischen Medienkontrollbehörde Roskomnadsor sprach anlässlich des Gesetzes davon, “angemessene Sicherheitsmaßnahmen” ergreifen zu wollen. Dem Deutschlandfunk sagte er im November 2019, es ginge nicht darum “Inhalte zu beeinflussen, zu entfernen und zu sperren”. Kritiker fürchten allerdings, dass dies zu weiteren Einschränkungen der Meinungsfreiheit führen wird. (dpa / js)