60.000 Hitzetote 2022 in Europa
Im Sommer 2022 hat es einer neuen Berechnung zufolge in Europa mehr als 60.000 hitzebezogene Todesfälle gegeben. Er war der bisher heißeste Sommer auf dem Kontinent seit Beginn der Aufzeichnungen. Deutschland hatte mit 8173 Toten die drittmeisten Hitzeopfer zu beklagen, nach Italien (18.010 Tote) und Spanien (11.324 Tote), wie ein Forschungsteam im Fachmagazin “Nature Medicine” berichtet.
Der Analyse des Barcelona Institute for Global Health (ISGlobal) zufolge lagen die Temperaturen in Europa im Juni 2022 zwischen 0,78 und 2,33 Grad Celsius höher als die langjährigen Mittelwerte. Im Juli waren sie um 0,18 bis 3,56 Grad erhöht – und im August 0,91 bis 2,67 Grad. Die höchsten Temperaturabweichungen gab es in Spanien und Südfrankreich.
Auf die Einwohnerzahl gerechnet gehört Spanien mit 237 Hitzetoten pro eine Million Einwohnern zu den am stärksten betroffenen Ländern, neben Italien (295), Griechenland (280) und Portugal (211). Frankreich verzeichnete die höchste Zahl hitzebezogener Todesfälle bei Menschen im Alter bis zu 64 Jahren (1007). Deutschland verzeichnete 98 Hitzetote pro eine Million Einwohner und belegt damit unter 35 europäischen Staaten Rang 13.
Waren passende Daten verfügbar, ordneten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die hitzebezogenen Todesfälle Altersklassen zu: Im Sommer 2022 starben demnach 4822 Menschen im Alter von bis zu 64 Jahren durch Hitze, 9226 im Alter von 65 bis 79 Jahren und 36.848 im Alter von 80 oder mehr Jahren. Das bestätigt, dass Hitze für ältere Menschen ein besonders großes Risiko darstellt.
Resilienzstrategie gefordert
Die Studienautoren fordern die Politik zum Handeln auf: “Angesichts des Ausmaßes der hitzebedingten Sterblichkeit auf dem Kontinent mahnen unsere Ergebnisse eine Neubewertung und Stärkung von Hitzeüberwachungs-Plattformen, Präventionsplänen und langfristigen Anpassungsstrategien an.”
Die Umweltmedizinerin Claudia Traidl-Hoffmann von der Universität Augsburg erklärte: “Die Studie konfrontiert uns für den Hitzesommer 2022 mit alarmierenden Zahlen. Da Sommer wie diese die normalen Sommer sein werden, sind dringend weitere Anstrengungen erforderlich.” Die Erfassung hitzebedingter Erkrankungen stehe noch am Anfang, Baustruktur und Lebensweise seien noch nicht an die Hitze angepasst und viele Menschen unterschätzten die Gefahr. “Es wird Zeit, von der reinen Reaktion und Anpassung zu Resilienzstrategien zu kommen. Ein Hitzeschutzplan ist da nur ein Steinchen in einem großen Mosaik.”
Sollten Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel ausbleiben, erwarten die Wissenschaftler vom ISGlobal eine mittlere hitzebezogene Sterblichkeitsbelastung von etwa 68.000 Todesfällen pro Sommer bis zum Jahr 2030, mehr als 94.000 Todesfällen bis 2040 und deutlich über 120.000 Todesfällen bis 2050.
Was ist Hitze?
Die Forschendengruppe um Joan Ballester hatte die Werte über Datenanalysen und Computermodelle ermittelt. Hitzebezogene Todesfälle sind nicht ganz einfach zu erfassen. Denn Hitze als direkte Todesursache, etwa bei einem Hitzschlag oder einem Sonnenstich, wird eher selten angegeben – hierzulande in durchschnittlich nur 19 Fällen pro Jahr, wie das Statistische Bundesamt (Destatis) kürzlich mitteilte. Zwar sterben die meisten Hitzetoten an einer Vorerkrankung. Doch belastet die Hitze den Körper zusätzlich und führt schlussendlich zum Tod, in Fällen die sonst glimpflicher verlaufen wären.
Deshalb sind Mediziner und Statistiker auf die Auswertung von Todesfällen und den Vergleich zwischen heißen und weniger heißen Sommern angewiesen. Sterben in Wochen mit hohen Temperaturen mehr Menschen als in vergleichbaren Wochen in anderen Jahren, dann wird diese Übersterblichkeit als hitzebezogen angenommen.
Ballester und Kollegen stützen sich bei ihrer Analyse auf eine große Datenbasis: auf mehr als 45 Millionen Todesfälle zwischen Januar 2015 und November 2022 aus 823 zusammenhängenden Regionen, die über 543 Millionen Europäer in 35 Ländern repräsentieren.
Die Daten stammen vom Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat), ergänzt um Daten nationaler Statistikbehörden. Die Anzahl der Todesfälle setzten die Forscher in Beziehung zu Temperaturanomalien, die als Unterschied zwischen gemessenen Temperaturen und Basistemperaturen definiert wurden. Die Basistemperaturen sind dabei Mittelwerte aus dem Referenzzeitraum 1991 bis 2020.
Matthias an der Heiden vom Robert Koch-Institut (RKI) in Berlin zufolge stehen die Berechnungen der Studie auf einer soliden Basis. Dennoch hat er gemeinsam mit Kollegen nur 4500 Opfer der Folgen von Hitzewellen in Deutschland für das Jahr 2022 ermittelt. Der Unterschied zu den Zahlen der aktuellen Studie resultiert unter anderem aus unterschiedlicher Definitionen von “Hitze”: Während das Team um Ballester eine Wohlfühltemperatur (thermisches Optimum) bei einem Wochenmittelwert von 17 bis 19 Grad annimmt, liegt diese in der RKI-Studie bei 20 Grad. An der Heiden warnt gleichzeitig davor, Hitze als Problem zu unterschätzen. “In heißeren Ländern gibt es oft schon mehr Anpassungen an hohe Temperaturen als hierzulande.”
Jahrhundertrekorde
Aktuell häufen sich weltweit Meldungen von neuen Hitzerekorden. So war der vergangene Juni nach Auswertungen des EU-Klimawandeldienstes Copernicus der weltweit wärmste seit Beginn der Aufzeichnungen. Global gesehen sei der Monat 0,53 Grad Celsius wärmer gewesen als der für den Zeitraum 1991 bis 2020 ermittelte Durchschnittswert, teilte die Organisation am Donnerstag im britischen Reading mit. Damit sei der bisherige Rekord vom Juni 2019 deutlich übertroffen.
Am Sonntag meldeten US-Wissenschaftler, dass der 6. Juli 2023 der bisher heißeste erfasste Tag weltweit war. Die durchschnittliche globale Temperatur an diesem Tag lag der University of Maine zufolge bei 17,23 Grad Celsius. Auch an den Tagen von Montag bis Samstag lag die durchschnittliche globale Temperatur der Plattform Climate Reanalyzer zufolge jeweils über 17 Grad und dem bisherigen Rekordwert von 16,92 Grad aus dem Jahr 2016.
Der bisherige Tagesrekord der bis 1979 zurückreichenden Daten der Universität von Maine lag bei 16,92 am 13. und 14. August 2016, im Juli 2022 wurde dieser Wert erneut erreicht.
El Niño im Anmarsch
Wie die Weltwetterorganisation (WMO) am vergangenen Dienstag mitteilte, herrschen im tropischen Pazifik erstmals seit mehreren Jahren wieder El-Niño-Bedingungen. Das natürliche Wetterphänomen kann die im Zuge der Klimakrise ohnehin stetig steigenden Temperaturen zusätzlich in die Höhe treiben. “Der Start eines El Niño erhöht deutlich die Wahrscheinlichkeit, dass Temperaturrekorde gebrochen werden, dass sich in vielen Teilen der Welt und im Ozean extreme Hitze entwickeln”, sagte WMO-Chef Petteri Taalas. Er rief Regierungen auf, Vorkehrungen zu treffen, damit bei extremen Wetterereignissen Menschenleben gerettet werden können.
Mojib Latif vom Geomar Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung in Kiel sagte: “Ich rechne damit, dass vielleicht schon 2023, auf jeden Fall aber 2024 ein Rekordjahr bei der globalen Temperatur wird.” Das letzte solche Jahr sei 2016 gewesen – ein El-Niño-Jahr. Das Wetterphänomen wirkt sich vor allem auf Südostasien, Australien, Afrika und Mittelamerika aus. (dpa / hcz)