Streaming-Tipp: Die dunkle Welt der Billigmode
Der Gründer des britischen Fast-Fashion-Labels PrettyLittleThing Umar Kamani versteckte seine Gefühlsregungen bis zu diesem Zeitpunkt hinter einer großen Sonnenbrille. Nun verliert er aber seine Beherrschung. “Gehen Sie! Gehen Sie! Und schalte die verdammte Kamera ab!”, brüllt er dem Fernsehteam hinterher. Sicherheitsleute werfen die Redakteure indes von der Fashion-Influencer-Party. Der Auslöser für den emotionalen Ausbruch war eine banale Frage: Der Redakteur wollte wissen, wie es die Firma schafft, ein Kleid aus der firmeneigenen Kollektion für 15 Euro anzubieten. “Diese Frage beantworte ich nicht. Weil ich nicht will”, mehr hatte Kamani nicht preiszugeben.
Reporter Edouard Perrin und Regisseur Gilles Bovon gehen in ihrer Dokumentation “Die dunkle Welt der Billigmode” ebendieser Frage nach. Sie zeigen in ihrer 90 minütigen Reportage auf: Der ehemalige Geschäftsführer Kamani hat gute Gründe dafür, nicht über die Produktion seiner Modeartikel sprechen zu wollen – wie auch viele andere Akteure der Billig-Modebranche. Denn die Industrie funktioniert auf Kosten der Schwächeren und der Umwelt.
Der Dokumentarfilm blickt hinter die Kulissen der Industrie und nimmt den Zuschauer mit zu den zahlreichen Stationen in der Produktions- und Vertriebskette der ultrapreiswerten Mode. Zu Wort kommen dort Insider, Wissenschaftler und Opfer: Eine Mode-Influencerin erzählt etwa von ihrem ungezügelten Drang, jeden Tag neue Kleidung zu bestellen, eine Reporterin lässt die Zuschauenden an ihrem ersten Arbeitstag “undercover” in einer Billig-Textilwerkstatt teilhaben – und ein indischer Arzt erklärt, warum trotz massiver Gesundheitsschäden unter der Bevölkerung niemand möchte, dass die ortsansässige Textilchemiefabrik verschwindet. Von den Anfängen der Fast Fashion, über deren Vermarktung bis hin zu den Arbeitsbedingungen für Lieferanten, Näherinnen und Angestellte in Chemiefabriken beleuchtet die Dokumentation exemplarisch einen Großteil der zur Fast-Fashion-Industrie gehörenden Bereiche.
Der Film beginnt ebenso wie die Geschichte der Fast Fashion bei der spanischen Modemarke Zara und deren Muttergesellschaft Inditex. Sie hat als erstes auf das Konzept der schnelllebigen Billig-Mode gesetzt und damit die Textilindustrie komplett umgekrempelt. Mittlerweile haben zahlreiche weitere Marken das Geschäftsmodell übernommen und auf die Spitze getrieben: Ständig wechselnde neue Kollektionen sollen Kundinnen und Kunden immer öfter in die Ladengeschäfte und Onlineshops treiben. 65.000 neue Modelle bringt beispielsweise Zara jährlich in seine Geschäfte. Zaras Konzept hat das Mutterunternehmen Inditex zum Weltmarktführer in der Textilbranche gemacht und den Gründer Armanzio Orthega zum sechstreichsten Mann der Welt.
Ultra Fast Fashion
Während Fast-Fashion-Marken à la Zara klassische Designer- und Boutique-Marken mit ihren Billigpreisen und ständig wechselnden Kollektionen unter Druck gesetzt haben, folgt jetzt die nächste Entwicklungsstufe in Form der sogenannten Ultra Fast Fashion : junge Marken, die nicht mehr auf Filialen und klassische Werbung setzen, sondern voll auf Online-Vertrieb und -Marketing.
Sie treiben das Fast-Fashion-Prinzip weiter in Extreme, sind noch kurzlebiger, noch billiger. PrettyLittleThing, Missguided und Shein verkaufen massenhaft Billig-Kleidung hauptsächlich an ein junges Publikum. Influencerinnen und Influencer bewerben die Stücke enthusiastisch auf schnelllebigen Social-Media-Plattformen wieTikTok und Instagram. Bei Stückpreisen von teils unter 6 Euro heiße die Devise umso mehr: Kaufen, Anziehen, Entsorgen. Das Publikum verlange das, erklärt ein Modemarkengründer – ob zuerst die Nachfrage oder zuerst das Angebot da war, ist nicht mehr zu klären.
Turbofertigung kehrt nach Europa zurück
Für Überraschung sorgt bei den Reportern ein Blick auf die eingenähten Etiketten vieler Kleidungsstücke. Denn wo bislang oftmals ostasiatische Staaten als Herstellungsort zu finden waren, stehen nun immer öfter europäische Länder, wie das Vereinigte Königreich. Zu den Produktionsstätten gehört beispielsweise die britische Stadt Leicester. Nach jahrzehntelangem Weggang kehrt die Textilindustrie nun dorthin zurück. Allerdings stellt sich im Zuge der Recherchen heraus: Häufig unter der Prämisse, dass nun auch dort Arbeitsbedingungen wie in der sogenannten Dritten Welt herrschen.
In einer der zahlreichen Textilwerkstätten in Leicester fragt eine Redakteurin mit versteckter Kamera nach einem Job. Ohne Qualifikation und ohne langes Bewerbungsgespräch ist sie prompt eingestellt. Sie könne heute anfangen; “Probieren sie es einfach aus”, meint der Fabrikleiter. Er kommt auch direkt auf die Bedingungen zu sprechen, die die Arbeit in den Billig-Werkstätten so prekär machen: “Nur Cash, keine Überweisungen.” Lohn wird der Arbeiterin aber erst nach einer Probezeit von “ein oder zwei Wochen” gezahlt. Und selbst dann wird dieser kaum zum Leben reichen: Drei Pfund pro Stunde zahlt die Fabrik, das ist weniger als ein Drittel des aktuell gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohns in England von 9,50 Pfund – und somit illegal.
Ob die Redakteurin 10, 12 oder 14 Stunden am Stück arbeiten möchte, überlässt der Vorgesetzte ihr. Beschäftigt sind die Arbeiterinnen und Arbeiter über obskure Null-Stunden-Verträge. “Sie haben eigentlich keinen Vertrag”, kritisiert der Arbeitswelt-Experte Nikolaus Hammer von der Universität Leicester im Beitrag. Fabrikbezirke wie in Leicester hätten sich zu rechtsfreien Zonen entwickelt. Soziale Absicherung gibt es nicht. Auch werden die Beschäftigten einfach ohne Lohn nach Hause geschickt, wenn keine Aufträge vorliegen. Vor allem Migranten machten die Arbeiterschaft in Leicester aus. Sie hätten meist kaum Bildung und keine finanzielle Absicherung. Einige sprächen nicht mal Englisch.
Die erste Charge an spontan genähten Röcken der Journalistin fällt erwartungsgemäß miserabel aus. Doch dass diese voller Fehler sind, ist den Betreibern egal. Später findet die Redakteurin das Label der Fast-Fashion-Marke PrettyLitteThing an den misslungenen Stücken. Nachdem die problematischen und teils illegalen Arbeitsbedingungen in Leicester öffentlich bekannt wurden, hatten sich viele große Modemarken dazu entschieden, nicht mehr in den Fabriken der Stadt zu produzieren. Die Boohoo-Gruppe mit seiner Marke PrettyLittleThing lässt dort hingegen weiterhin fertigen.
Giftige Produktion
Die Probleme in der Lieferkette der Fast-Fashion-Marken fangen nicht erst bei der Fertigung der Kleidungsstücke selbst an. Bereits die Herstellung der Fasern verursacht Umwelt- und Gesundheitsschäden. Der Beitrag zeigt das am Beispiel des beliebten und angeblich nachhaltigen Textilstoffes Viskose. Im Vergleich zu Baumwolle wird bei der Produktion Wasser gespart und weniger Ackerfläche beansprucht, erklärt ein Vertreter des Viskosemarktführers Aditya Birla auf einer Textilmesse.
Dass der Stoff häufig alles andere als umweltfreundlich und nachhaltig hergestellt wird, wird beim Besuch in der indischen Stadt Nagda deutlich. Seit 1956 produziert Birla dort den für die Viskoseherstellung essentiellen Stoff Kohlenstoffdisulfid. Ehemalige Arbeiter berichten vor der Kamera von stechenden Dämpfen, Halluzinationen, Kopfschmerzen und verfrühten Herzinfarkten. “Wer auch nur in die Nähe des Zeugs kommt, wird den Geruch zehn Tage nicht los”, berichtet ein Arbeiter. “Nach acht Tagen in der Fabrik stinken deine Kleider ein halbes Jahr.”
Anwohner des Chemiewerks berichten von Unfruchtbarkeit, Seh- und Artikulationsproblemen, Lähmungen sowie vorzeitiger Alterung. Kinder kämen gesund zur Welt, verlören über mehrere Jahre aber ihre Muskelkraft und würden teils im Rollstuhl enden. Das Wasser aus dem angrenzenden Fluss ist nicht mehr trinkbar; deswegen werden die Bewohner mit Trinkwasserlieferungen versorgt – vom angeblich unschuldigen Fabrikbetreiber. Für die Bewässerung der Äcker wird allerdings weiterhin das Wasser aus dem Fluss genutzt.
Dennoch gebe es kaum moderne Studien zu den Gefahren von Kohlenstoffdisulfid, erklärt der Arbeitsmediziner Paul Blanc im Film. Und auch die Häufung der Krankheitsfälle und Behinderungen in Nagda wurden lange Zeit von Behörden und verantwortlichen Medizinern ignoriert. Der ehemalige Chefarzt des ortsansässige Krankenhauses erklärt, warum er in seinen Dienstjahren keine Studien durchführen ließ, um den Zusammenhang zwischen der Umweltverschmutzung und den auftretenden Beschwerden der Arbeiter und Anwohner nachzuweisen: “Wenn ich ehrlich sein soll, wollen wir gar nicht gegen das Werk vorgehen. Es ist ein sehr gutes Werk.” Viele Menschen fänden dort Arbeit; es sei ein wichtiger Wirtschaftsfaktor für das Land. “Wir können stolz darauf sein”, fügt er hinzu.
Nur Gutes im Sinn
Der PrettyLittleThing-Gründer Kamani verliert den Reportern gegenüber kein Wort zu den menschenunwürdigen Arbeits- und Produktionsbedingungen seiner Kleidung. Vor seinem emotionalem Ausbruch vor der Kamera gibt er dem Fernsehteam stattdessen die angebliche Philosophie seiner Firma zum Besten: Es gehe bei der Marke um mehr als eine Mode-Webseite. “Wir wollen dem Kunden etwas Gutes mitgeben – gute Werte. Wenn Sie eine Tochter haben, soll PrettyLittleThing sie zum Guten inspirieren.”
Die Dokumentation “Die dunkle Welt der Billigmode” nimmt die Zuschauerinnen und Zuschauer mit auf eine Reise entlang der gesamten Produktions- und Lieferkette billiger Kleidungsstücke. Im Gesamtbild wird klar, dass auf die Spitze getriebener Konsum, Kampfpreise und ständig wechselnde Trends unvereinbar sind mit Ethik, Menschenrechten und Umweltschutz. Zurück bleibt der Zuschauer mit dem Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann und dem Wunsch nach Alternativen. Ernstzunehmende Lösungen bietet die Industrie aber bislang (so gut wie) nicht an – dafür umso mehr Marketing.
Bis zum 11. Juli ist die Dokumentation noch kostenlos in der Arte-Mediathek zu sehen oder nahezu unbegrenzt auf dem YouTube-Kanal des Senders. (hcz)