Afghanistan: Taliban gehen gegen Journalisten vor

Taliban-Kämpfer
Keine Freunde der freien Presse: die neuen Machthaber in Afghanistan. (Quelle: IMAGO / SNA)

Die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende in Afghanistan haben sich seit der Machtübernahme der Taliban bereits massiv verschlechtert. Die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtete am Mittwoch von Drohungen, Schikanen und Gewalt gegenüber Journalistinnen und Journalisten. Es sei zu Einschüchterungsversuchen und inhaltlicher Einflussnahme gekommen. Betroffen sind verschiedene Medienarten, wie Radio, TV, Print und Online.

RSF sprach mit Medienschaffenden vor Ort, um sich ein Bild der Lage zu verschaffen. Aus Sicherheitsgründen blieben alle Befragten im Bericht anonym. Mindestens zehn Pressevertreterinnen und -vertreter sollen in den vergangenen Wochen bei ihrer Arbeit in der Hauptstadt Kabul und Dschalalabad körperlich angegriffen oder bedroht worden sein. “Es gibt im Moment keine klaren Regeln und wir wissen nicht, was in Zukunft passieren wird”, beschrieb ein europäischer Journalist in Kabul die Lage gegenüber RSF.

Seitdem die radikalislamischen Taliban am 15. August fast landesweit die Kontrolle übernommen haben, haben laut RSF bereits rund 100 private Lokalmedien ihre Arbeit eingestellt. Dabei sei die Medienlandschaft, die in den letzten 20 Jahren entstanden ist, “lebendig und plural” gewesen. Es existierten Dutzende Radio- und Fernsehsender und rund 200 Printmedien.

Sharia und Propaganda

Sender, die weiterarbeiten, erhielten täglich Drohungen oder sollen ihre Berichterstattung nach dem Willen der Taliban anpassen. “In der vergangenen Woche haben die Taliban fünf Reporterinnen und Reporter und Kameraleute unseres Senders geschlagen und sie als ‚takfiri‘ [in diesem Zusammenhang etwa ‚Ungläubige‘] bezeichnet. Sie kontrollieren alles, was wir senden. Vor Ort sammeln die Taliban systematisch die Telefonnummern unserer Reporterinnen und Reporter und sagen ihnen: ‚Wenn ihr diesen Beitrag vorbereitet, werdet ihr dieses und jenes sagen‘. Machen sie das nicht, werden sie bedroht”, berichtete der Produzent eines überregionalen Privatsenders gegenüber RSF.

Viele Sender hätten auf den Druck reagiert und ihr Programm angepasst. Die neuen Machthaber rechtfertigen ihre Forderungen mit der islamischen Sharia. Ein TV-Mitarbeiter erklärte: “Serien und gesellschaftspolitische Sendungen wurden abgesetzt, stattdessen übertragen wir nur noch Nachrichtenmeldungen und Dokumentationen aus den Archiven.”

Gleichzeitig versuchten die Islamisten die Sender für die Verbreitung ihrer eigenen Propaganda einzuspannen. Sie hätten verschiedene Medien angewiesen, bestimmtes Video- und Audiomaterial zu senden. Weigerten sich die Sender, argumentierten die Machthaber, es handele sich nur um Werbung und man werde für die Ausstrahlung bezahlen. Zudem verwiesen sie auf “nationale und islamische Pflicht”.

Unklare Regeln

Es herrschten aber keine eindeutigen Regeln, was Journalisten aus Sicht der Taliban und der Sharia erlaubt ist und was nicht. Der Besitzer einer privaten Radiostation nahe Kabul beklagte gegenüber RSF: “Vor einer Woche sagten sie uns: ‚Ihr könnt frei arbeiten, solange ihr die islamischen Regeln einhaltet‘, aber dann begannen sie, uns ‚anzuleiten‘, welche Nachrichten wir senden dürfen und welche nicht, und was sie als ‚faire‘ Berichterstattung betrachten.” Mittlerweile habe er den Sender geschlossen und sei “untergetaucht”.

Mitarbeiter eines Fernsehsenders berichteten von anderen Unwägbarkeiten: Als diese einen Beitrag vor der französischen Botschaft drehen wollten, hielt sie ein Taliban-Kämpfer davon ab und forderte eine Genehmigung vom “Islamischen Emirat Afghanistan”. Auf die Frage, woher die Medienschaffenden diese bekämen, habe der Taliban keine Antwort gewusst.

Lügen der Taliban

In weit von der Hauptstadt entfernten Gebieten stünden Medienvertreter noch stärker unter Druck. Die Einflussnahme sei dort noch direkter als rund um die Hauptstadt. “Hier im Süden muss ich ständig unter der Drohung der Taliban arbeiten, die alles, was ich mache, kommentieren: ‚Warum hast du diesen Beitrag gemacht? Und warum hast du uns nicht nach unserer Meinung gefragt?”, beschwerte sich der Korrespondent eines Radiosenders. In der viergrößten Stadt des Landes Masar-i-Scharif mussten laut RSF Journalisten ihre Arbeit komplett einstellen.

Dabei hatten die Taliban gegenüber RSF behauptet, die Pressfreiheit zu achten. “Wir werden die Pressefreiheit respektieren, denn die Berichterstattung der Medien ist für die Gesellschaft nützlich und kann dazu beitragen, die Fehler der Führer zu korrigieren”, sagte am 15. August der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid. Die Islamisten würden die “Bedeutung der Rolle der Medien” anerkennen. Mit der aktuellen Vorgehensweise der Gruppierung sind diese Aussagen nicht vereinbar. Und RSF fragte damals offensichtlich zu Recht: “Wie viel Vertrauen sollte man diesen sorgfältig ausgewählten Worten entgegenbringen?”

Per Twitter kündigte ein weiterer Sprecher der Taliban am 21. August ein Komitee zur “Beruhigung der Medien” mit Sitz in Kabul an. Die drei Mitglieder stammten aus der Kulturkommission, den Journalistenverbänden und aus der Polizei. Sie sollen “Medienprobleme in Kabul ansprechen”. Was damit gemeint ist, blieb laut RSF offen.

Der Leiter eines Radiosenders in der Provinz Herat schilderte RSF ein Treffen zwischen Medienschaffenden und dem neuen Gouverneur der Provinz am 17. August. Dabei kündigte der Taliban neue Arbeitsregeln für die Anwesenden an. Laut ihm galt nun: “Die Scharia definiert alles: ‚Befiehl, was gut ist, und verbiete, was schlecht ist.‘ Man müsse dies nur praktisch anwenden.” Die meisten der Angesprochenen hätten nach dieser Ansage die Stadt verlassen. Wer geblieben ist, müsse “ständig beweisen, dass das, was wir senden, das Gute befiehlt und das Böse verbietet.”

Nichts Gutes zu erwarten

Auch Auslandskorrespondenten müssten sich bei der Arbeit der Willkür der Taliban beugen. So dürfen sie seit dem vergangenen Wochenende Interviews mit Kämpfern oder der lokalen Bevölkerung nur noch führen, wenn sie diese zuvor mit dem Regime abgestimmt haben. Andernfalls riskierten sie eine Festnahme. Aus Sicht lokaler Medienmacher bewahrt sie die Anwesenheit internationaler Medien vor gröberen Restriktionen und Übergriffen. “Wir profitieren von der Tatsache, dass die Taliban immer noch nach Legitimität suchen. Die Ankunft großer internationaler Fernsehsender in den vergangenen Tagen schützt uns. Die Schwierigkeiten beginnen, wenn wir wieder auf uns allein gestellt sind”, prophezeit ein Korrespondent gegenüber RSF.

Die erste Herrschaftsperiode der Taliban von 1996 bis 2001 war laut eines Berichts von RSF aus dem Jahr 2009 “eine dunkle Zeit in der Geschichte Afghanistans”. Alle Medien seien verboten worden, mit Ausnahme der “Stimme der Scharia”, die ausschließlich Propaganda und religiöse Programme ausstrahlte.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF steht Afghanistan bereits auf Platz 122 von 180 Staaten. Die Organisation schreibt: “Journalist*innen in Afghanistan schweben in akuter Lebensgefahr, denn seit dem Siegeszug der Taliban ist einer der größten Feinde der Pressefreiheit weltweit an der Macht.” Und: “Schon vor der jüngsten Machtübernahme war die Arbeit für Medienschaffende vor Ort gefährlich.” (hcz)