Amnesty: 853 Hinrichtungen im Iran
Der Iran hat im Jahr 2023 so viele Todesurteile vollstreckt wie kaum ein anderer Staat. Einem am Donnerstag veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International zufolge wurden im vergangenen Jahr im Iran mindestens 853 Menschen hingerichtet. Das seien 48 Prozent mehr als noch 2022 – und 172 Prozent mehr als 2021.
“Die iranischen Gefängnisse sind 2023 Schauplätze von Massentötungen geworden”, erklärte die Organisation in einer Pressemitteilung. Mehr als 56 Prozent der Hinrichtungen hätten wegen Drogendelikten stattgefunden und damit vor allem arme und marginalisierte Bevölkerungsgruppen getroffen. Im vergangenen Jahr sei es außerdem zu einer Welle von Hinrichtungen von Demonstrierenden, Nutzern Sozialer Medien und anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Regimegegnern gekommen. Die Todesurteile seien oftmals in unfairen, politisch beeinflussten oder gar geheimen Gerichtsprozessen gesprochen worden, so der Bericht.
Der iranische Staat habe seit 2015 nicht mehr so viele Inhaftierte getötet wie 2023. Einen Anstieg der Hinrichtungen beobachtet Amnesty bereits seit den landesweiten Massenprotesten der “Frau Leben Freiheit”-Bewegung seit September 2022. Die Behörden setzten die Todesstrafe ein, “um die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen und ihre Macht zu festigen”.
Christian Mihr, stellvertretender Generalsekretär von Amnesty International Deutschland, fordert mit Blick auf die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft: “Die massenhaften Hinrichtungen im Iran müssen spürbare diplomatische Konsequenzen haben – ansonsten werden sich die iranischen Behörden ermutigt fühlen, in den kommenden Jahren weitere Tausende von Menschen ungestraft hinzurichten.”
Wie viele Menschen tatsächlich getötet wurden, kann laut Amnesty im Iran nur schwer festgestellt werden: Die Behörden veröffentlichen keine Zahlen zu Todesurteilen und deren Vollstreckungen. Die im Bericht dokumentierten Fälle konnte Amnesty in Zusammenarbeit mit der Menschenrechtsorganisation Abdorrahman Boroumand Center ermitteln. Als Quellen dienten unter anderem Berichte von staatlichen und unabhängigen Medien sowie von weiteren Menschenrechtsorganisationen. Amnesty International geht jedoch davon aus, dass die tatsächlichen Zahlen noch höher liegen.
Drogenpolitik marginalisiert Volksgruppen
In Hinblick auf die deutlich gestiegenen Exekutionszahlen wegen Drogendelikten erklärte Amnesty, der Iran kehre zu einer tödlichen Antidrogenpolitik zurück, obwohl es internationales Recht verbiete, Drogendelikte mit dem Tod zu bestrafen. “Die Todesstrafe ist unter allen Umständen abzulehnen, doch ihre massenhafte Anwendung bei Drogendelikten nach grob unfairen Verfahren ist ein besonders eklatanter Machtmissbrauch.”
Zudem fänden die Exekutionen im Zusammenhang mit Drogendelikten oftmals geheim statt – selbst Familienangehörige und Rechtsbeistände erführen nichts davon. Verwandte würden üblicherweise nur kontaktiert, um den Leichnam abzuholen.
Die Antidrogenstrategie der Regierung wirke sich diskriminierend auf die ohnehin schon am stärksten marginalisierten und verarmten Bevölkerungsgruppen aus: “Auf die belutschische Minderheit im Iran entfielen insgesamt 29 Prozent (138) dieser Hinrichtungen, obwohl sie nur etwa 5 Prozent der iranischen Bevölkerung ausmacht”, kritisiert Amnesty. Im Jahr 2022 hatten sogar 42 Prozent der wegen Drogendelikten Hingerichteten zu dieser Bevölkerungsgruppe gehört.
Ein Großteil der iranischen Belutschen leben in den ärmsten Provinzen des Iran. Sistan und Belutschistan werden laut Amnesty International von der Zentralregierung dauerhaft unterfinanziert und sind dadurch unterentwickelt. Die Behörden bestritten aber, dass in wirtschaftlicher Not und systematischer Marginalisierung Ursachen für die Beteiligung an Drogendelikten zu finden sind.
“Angst als Waffe”
Amnesty berichtet auch von einer “Welle von Hinrichtungen” im vergangenen Jahr im Zusammenhang mit den Massenprotesten der “Frau Leben Freiheit”-Bewegung. Die iranischen Behörden hätten 2023 sechs Männer im Zusammenhang mit dem Massenprotesten von 2022 und einen Mann im Zusammenhang mit den landesweiten Protesten vom November 2019 exekutiert. Mindestens sieben weitere Personen wurden im Zusammenhang mit Protesten zum Tode verurteilt und befinden sich laut Amnesty in unmittelbarer Gefahr, hingerichtet zu werden. Einige der Getöteten seien wegen angeblicher “Beleidigung des Propheten”, “Abfall vom Glauben”, “Feindschaft gegen Gott” oder “Verderbnis auf Erden” verurteilt worden.
Auch hier fanden die Exekutionen laut Amnesty oft ohne Vorankündigung bei den Familienangehörigen oder Anwälten statt, sodass ihnen ein letzter Besuch verwehrt blieb. In einem Fall hätten die Behörden der Familie einen Tag vor der Hinrichtung noch mitgeteilt, dass diese ausgesetzt sei und demnächst eine Begnadigung erwartet werde.
“Demonstranten, Dissidenten und Angehörige unterdrückter ethnischer Minderheiten gehören zu den Hingerichteten, da die Behörden die Todesstrafe als Waffe eingesetzt haben, um in der Öffentlichkeit Angst zu schüren und abweichende Meinungen zu unterdrücken”, erklärte Diana Eltahawy, stellvertretende Regionaldirektorin bei Amnesty.
Seit Januar 2018 seien mindestens 13 Menschen im Zusammenhang mit Protesten hingerichtet worden. Die Getöteten seien nach äußerst unfairen Prozessen zum Tode verurteilt worden. Zudem habe es in allen Fällen Vorwürfe von Folter gegeben, die aber nicht weiter untersucht worden seien.
Scheinverhandlungen vor den Revolutionsgerichten
Die Revolutionsgerichte waren im Jahr 2023 für 61 Prozent der vollstreckten Todesurteile verantwortlich. Diese Gerichte sind für ein breites Spektrum von Straftaten zuständig, auch für Drogendelikte, die von den Behörden als Bedrohung der “nationalen Sicherheit” betrachtet werden. Amnesty kritisiert, den Gerichten fehle es an Unabhängigkeit, sie stünden unter dem Einfluss von Sicherheits- und Geheimdiensten. Auch würden routinemäßig durch Folter erzwungene “Geständnisse” in grob unfairen Schnellverfahren verwendet, um Schuldsprüche zu fällen.
“Verfahren vor solchen Gerichten sind von Natur aus unfair, da den Angeklagten systematisch das Recht auf ein faires Verfahren verweigert wird, einschließlich des Rechts auf eine angemessene Verteidigung, das Recht, ihre Inhaftierung anzufechten, das Recht auf die Unschuldsvermutung, das Recht, sich nicht selbst zu belasten und das Recht auf eine ernsthafte Überprüfung”, kritsiert Amnesty.
Internationaler Druck erforderlich
Der Iran hat im Jahr 2023 laut Amnesty auch sechs junge Menschen hingerichtet, die zum Zeitpunkt der Taten unter 18 Jahre alt waren; ein Verurteilter sei selbst zum Zeitpunkt der Hinrichtung nur 17 Jahre alt gewesen.
Damit sei der Iran eines der letzten Länder, das die Todesstrafe auch gegen Menschen verhängt, die zum Zeitpunkt des Vergehens jünger als 18 Jahre waren. Dies verstoße gegen das Völkerrecht und die UN-Kinderrechtskonvention, die auch der Iran ratifiziert hat.
Amnesty appelliert an die internationale Gemeinschaft und die deutsche Bundesregierung, sich für ein Hinrichtungsmoratorium einzusetzen. Ziel müsse die endgültige Abschaffung der Todesstrafe im Iran sein. Zudem plädiert Amnesty für eine Mandatsverlängerung der UN-Untersuchungskommission und des Sonderberichterstatters zum Iran. Es müssten weiter Beweise für die Menschenrechtsverletzungen dort gesammelt werden, sagte der stellvertretende Amnesty-Generalsekretär Mihr. Über das Mandat stimmt der UN-Menschenrechtsrat diese Woche ab.
Die Bundesregierung solle die Möglichkeit universeller Gerichtsbarkeit nutzen, um die iranischen Verantwortlichen auch in Deutschland zur Rechenschaft zu ziehen. Die universelle Gerichtsbarkeit beziehungsweise das Weltrechtsprinzip erlaubt es, schwere Menschenrechtsverbrechen weltweit zu verfolgen, unabhängig davon, wo die Taten begangen wurden und welche Staatsangehörigkeit die Täterinnen oder Täter sowie die Opfer besitzen.
Auch in diesem Jahr ist der iranische Staat nicht von seiner Praxis abgewichen: Seit Jahresbeginn wurden laut Amnesty bereits mindestens 95 Menschen getötet. Die Organisation geht jedoch davon aus, dass die tatsächliche Zahl höher liegt. (hcz)