Assange-Prozess: Zwiegespaltene Reaktionen auf Gerichtsurteil
Ein britisches Gericht hat die Auslieferung von Wikileaks-Gründer Julian Assange an die USA abgelehnt. Richterin Vanessa Baraitser begründete am Montag in London ihre Entscheidung mit dem psychischen Gesundheitszustand Assanges und den Haftbedingungen, die ihn in den USA erwarten würden. Es sei damit zu rechnen, dass er sich in Isolationshaft das Leben nehmen würde.
Politiker, Journalistenverbände und Menschenrechtler begrüßten die Entscheidung. Sie kritisierten aber, dass die Richterin den Fall nicht als politisch motiviert einstufte. Die Vorwürfe gegen ihn seien teils so weit gefasst, dass sie in Zukunft auch Zeitungs- oder Fernsehjournalisten treffen könnten, wenn die mithilfe geheimer Dokumente unangenehme Tatsachen ans Licht bringen. Assange drohten in den USA im Fall einer Verurteilung bis zu 175 Jahre Haft.
USA lassen nicht locker
Assanges Verlobte Stella Moris forderte die US-Regierung auf, das Verfahren gegen ihren Partner einzustellen. “Der heutige Sieg ist ein erster Schritt hin zur Gerechtigkeit in diesem Fall”, sagte Moris vor dem Gerichtsgebäude Old Bailey. Doch zum Feiern sei es zu früh. Noch fürchte sie, dass die USA ihren Partner weiterhin unerbittlich verfolgen wollen.
Am Mittwoch wird über eine Freilassung Assanges auf Kaution entschieden. Mexiko will dem 49-Jährigen Asyl anbieten, wie Präsident Andrés Manuel López Obrador ankündigte. Die USA haben bereits angekündigt, Berufung gegen das Urteil einzulegen. Dann könnte das Verfahren vor den britischen Supreme Court gehen und schließlich den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg beschäftigen.
Journalismus oder Geheimnisverrat?
Die US-Justiz wirft dem gebürtigen Australier vor, gemeinsam mit der Whistleblowerin Chelsea Manning – damals Bradley Manning – geheimes Material von US-Militäreinsätzen im Irak und in Afghanistan gestohlen und veröffentlicht zu haben. Es geht um Hunderttausende Dokumente. Der 49-Jährige habe damit das Leben von US-Informanten in Gefahr gebracht, so der Vorwurf. Unterstützer aus Politik und Zivilgesellschaft sehen in ihm hingegen einen investigativen Journalisten, der Kriegsverbrechen ans Licht gebracht hat.
Der Whistleblower Edward Snowden lobte das Urteil. Bei Twitter schrieb er: “Vielen Dank an alle, die sich gegen eine der gefährlichsten Bedrohungen der Pressefreiheit seit Jahrzehnten eingesetzt haben.” Der Mitbegründer der Enthüllungsplattform Wikileaks Daniel Domscheit-Berg begrüßte ebenfalls die Gerichtsentscheidung. Allerdings sei Assanges Situation weiter katastrophal. “Daran hat das Urteil überhaupt nichts geändert”, sagte Domscheit-Berg dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Wenn die britische Richterin auf die Haftbedingungen in den USA verweise, dann solle sie “mal in den Spiegel gucken”. In Großbritannien seien die Bedingungen kaum besser.
“Keine Anhaltspunkte” für Trumps Feindlichkeit
Richterin Baraitser machte deutlich, dass der Fall ihrer Ansicht nach nicht politisch motiviert sei. Assanges Verhalten sei über das normale Verhalten eines investigativen Journalisten hinausgegangen. Er sei sich der Gefahr für Informanten bewusst gewesen, als er deren Namen in den veröffentlichten Dokumenten nicht schwärzte. Die Zeitungen, mit denen er zusammengearbeitet hatte, hätten hingegen die nötige Sorgfalt walten lassen. “Das Recht auf freie Meinungsäußerung bietet Menschen wie Herrn Assange keinen uneingeschränkten Ermessensspielraum, um über das Schicksal anderer zu entscheiden”, sagte die Richterin.
Es gebe zudem keine Beweise, dass die Regierung von US-Präsident Donald Trump Druck auf Staatsanwälte ausgeübt habe, betonte sie. “Es gibt wenig oder keine Anhaltspunkte dafür, dass Präsident Trump Herrn Assange oder Wikileaks feindlich gegenübersteht.” Ebenso wenig ließ sie Einwände gelten, Assange erwarte in den USA kein rechtsstaatliches Verfahren.
“Die Presse- und Meinungsfreiheit auf der Anklagebank”
Deutsche Journalistenverbände reagierten erleichtert auf das Urteil. Der Richterspruch sei ein wichtiger Erfolg “für alle Journalistinnen und Journalisten, die mit brisantem Material arbeiten, an dessen Veröffentlichung Mächtige kein Interesse haben”, sagte der Bundesvorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbands (DJV), Frank Überall.
Der Geschäftsführer der Organisation Reporter ohne Grenzen, Christian Mihr, kritisierte, die Urteilsbegründung “lässt eine Hintertür offen für die Verfolgung von Journalistinnen und Journalisten weltweit, die geheime Informationen von großem öffentlichen Interesse veröffentlichen, wie es Assange getan hat”. Die Ansicht der Richterin, dass es sich nicht um ein politisches Verfahren handelt und dass es nicht grundlegende Fragen der Pressefreiheit berührt, teile Reporter ohne Grenzen in keiner Weise.
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International kritisierte, Großbritannien habe mit der Zulassung des Verfahrens einen Präzedenzfall geschaffen “und die Presse- und Meinungsfreiheit auf die Anklagebank gesetzt”. Die britische Regierung hätte die USA niemals so bereitwillig bei ihrem unerbittlichen Streben nach Assange unterstützen dürfen.
Ähnlich äußerten sich Politiker in Deutschland. Die Obfrau der Linken im Auswärtigen Ausschuss, Sevim Dagdelen, betonte, die Richterin habe der Kriminalisierung des investigativen Journalismus zugestimmt. Auch die medienpolitische Sprecherin der Grünen, Margit Stumpp, kritisierte, die Argumentation sei “nicht nachzuvollziehen”. So werde “grundsätzlich ignoriert, dass das Auslieferungsgesuch politisch motiviert ist”, sagte sie.
Der SPD-Bundesvorsitzende Norbert Walter-Borjans spricht sich für eine Begnadigung Julian Assanges aus. “Die Aufdeckung von Straftaten muss besonderen Schutz genießen – in den USA, aber auch in Europa”, sagte der Politiker am Montag gegenüber der dpa. Der Wikileaks-Gründer stehe unter anderem für die Aufklärung von Vergehen gegen die Menschlichkeit. Whistleblowing dieser Art dürfe nicht “mit Spionage für fremde Mächte gleichgesetzt und kriminalisiert werden”, so Walter-Borjans weiter.
Die Bundesregierung wollte den Fall nicht kommentieren. “Wir haben das Urteil zur Kenntnis genommen”, sagte Regierungssprecher Steffen Seibert in Berlin.
Jahre in Isolation
Der Wikileaks-Gründer sitzt bereits seit rund eineinhalb Jahren im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh im Südosten der britischen Hauptstadt. Angesichts der Corona-Pandemie durfte er nur sehr eingeschränkt Besuch empfangen, auch Telefonate nach draußen waren nicht unbegrenzt möglich. Familienmitglieder sorgten sich seit langer Zeit um Assanges psychischen und gesundheitlichen Zustand.
Schlagzeilen machte Assange 2012 mit seiner Flucht in die ecuadorianische Botschaft in London. Damals lag gegen ihn ein europäischer Haftbefehl wegen Vergewaltigungsvorwürfen in Schweden vor. Die Ermittlungen wurden jedoch später eingestellt. Die britische Polizei verhaftete Assange im April 2019, weil er mit der Flucht in die Botschaft gegen Kautionsauflagen verstoßen hatte. Er wurde zu einem knappen Jahr Haft verurteilt. (dpa / hcz)