Buchrezension: Influencer - Die Ideologie der Werbekörper

Buch Influencer
“Influencer” analysiert eine der modernsten – und perfideren – Formen der Werbung. (Quelle: Posteo)

Der Podcaster und Volkswirt Ole Nymoen und der Filmanalyst und Youtuber Wolfgang M. Schmitt sezieren in ihrem Sachbuch “Influencer – Die Ideologie der Werbekörper” das Phänomen der namensgebenden Werbebotschafterinnen und -botschafter. Sie zeigen auf, wie es soweit kam, dass sich ein Hundertmillionenpublikum täglich Dauerwerbesendungen auf YouTube, Instagram & Co. freiwillig ansieht. Und warum sich die Werbebranche die Influencer so dankbar zu eigen macht. Dass die Autoren keine Fans des Phänomens Influencer sind, wird durch den kritischen – aber unterhaltsamen – Tenor schnell klar.

Der Einstieg in die Welt der Influencerinnen und Influencer erfolgt mit der Anfangsszene der Romanverfilmung “American Psycho” aus dem Jahr 2000: Der psychopathische Serienmörder Patrick Bateman treibt diszipliniert Sport, um seinen perfekten Körper in Form zu halten und reinigt, pflegt und regeneriert sein Äußeres mit unzähligen Cremes, Gels, Masken, Peelings und Shampoos. Im späteren Verlauf des Films nennt er penibel den Hersteller, die Wirkstoffe und den versprochen Effekt.

Die Filmszene beschreiben die Autoren nicht, weil sie Influencer für Serienkiller halten, sondern weil die Situation genauso gut aus einem Video auf YouTube oder einer Story auf Instagram stammen könnte. Die selbstverliebte Inszenierung und der Fokus auf Äußerlichkeiten und Konsumprodukte sind der Kern vieler Influencer-Inhalte – auch wenn es Ausnahmen gibt. Die Intention besteht immer in Werbung – meist für ein beliebiges Produkt, manchmal aber auch nur für sich selbst.

So abschreckend und unsympathisch diese Kurzbeschreibung klingen mag: Influencer haben sich trotzdem zu den “wichtigsten Sozialfiguren des digitalen Zeitalters” gemausert. Die Autoren bezeichnen sie als ein “Pop- und Konsumkultur, Werbebranche und Kapitalismus prägendes Phänomen”. Ihre Abonnentenzahlen übersteigen die Printauflagen einflussreicher Zeitungen um ein Vielfaches. Und auf Modeschauen, Messen und Produktpräsentationen sitzen sie in den ersten Reihen, während Journalisten teils draußen bleiben müssen. Werbeabteilungen können mit ihrer Hilfe endlich wieder junge Menschen erreichen, die Fernsehwerbung und Online-Werbebannern keine Beachtung mehr schenken.

Nach Vorbild des Kinos

Zu Anfang der Lektüre stehen die Ursprünge des Phänomens im Fokus. Das Influencertum hat eine Historie. Woran sich zeigt, dass es sich nicht mehr um ein kurzlebiges Phänomen der Gesellschaft oder Jugendkultur handelt, sondern um einen festen und ernsthaft zu behandelnden Teil der Medienwelt.

Als historisches Paradebeispiel dient den Autoren James Bond, der das Publikum zu “Identifikation und Nachahmung einlädt”. Die Figur habe vieles vorweggenommen, was heute in den sozialen Netzwerken zu Erfolg beziehungsweise “Followern” führt: “Hoher Prestige, weltweite Bekanntheit und ein konsumaffiner Lebensstil machen Bond zum perfekten Influencer.”

Längst haben Influencer alte Werbeformen abgelöst. Während beispielsweise Kinofilme jahrzehntelang eine tragende Rolle bei der Werbung gespielt haben, ist diese Zeit spätestens seit der Dominanz von Instagram, Snapchat, YouTube & Co. endgültig vorbei. Die Grundidee des Influencertums bleibt aber dieselbe wie in den Frühzeiten der Produktplatzierungen in Kinofilmen: Werbung so unauffällig und natürlich zu integrieren wie möglich – und sie nicht wie Werbung aussehen zu lassen.

Wo allerdings früher offensichtlich fiktive Protagonisten als Identifikationsfigur dienten, stünden heute die real existierenden Influencerinnen und Influencer. Auf den ersten Blick sind sie jung, sportlich, kreativ und reiseaffin und erzählen aus ihrem Leben. Erst in der Analyse wird deutlich, dass sie zum Teil sehr konservative, stereotype Geschlechterrollen vertreten, Konsum und Kapitalismus bewerben – und ebenso schauspielern wie einst Sean Connery, Roger Moore & Co. in der Rolle als James Bond.

Moderne Testimonials

Influencer seien die moderne, perfektionierte Form des klassischen Testimonials – Prominente, die Produkte empfehlen. In der klassischen Fernsehwerbung naschte Thomas Gottschalk Gummibärchen und Oliver Kahn rief zu Sportwetten auf. Diese Art Werbung lebt von der Glaubwürdigkeit des auftretenden Promis. Die Glaubwürdigkeit leidet hier allerdings darunter, dass es den Zuschauerinnen und Zuschauern verborgen bleibt, ob die Personen privat tatsächlich die beworbenen Produkte konsumieren.

Hier kommen die Influencer ins Spiel. Sie scheinen ihr komplettes Leben zu dokumentieren und zeigen in ihrem angeblichen Alltag, wie sie die angepriesenen Produkte tatsächlich selbst verwenden – der Fitness-Influencer trinkt den Protein-Shake, die Beauty-Influencerin trägt die Makeup-Produkte. Das baue Intimität und Verbundenheit zum Publikum auf – und erhöhe die Glaubwürdigkeit signifikant im Vergleich zu den früheren Testimonials aus TV-Werbespots, meinen die Autoren. Die Strategie sei eine Kombination aus Testimonial und Produktplatzierung – mit dem Ziel, die Werbeintention so gut wie möglich zu verschleiern.

Ob die den Influencern entgegengebrachte Glaubwürdigkeit schlussendlich berechtigt ist, werde in der Schnelllebigkeit der sozialen Netzwerke selten überprüft: Auf Instagram binden die Influencer ihre Inhalte meist in sogenannte Storys ein. Diese verschwinden nach 24 Stunden automatisch aus dem sozialen Netzwerk. Auf anderen Plattformen gehen Inhalte, die älter als ein Tag sind, schnell in dem Wust aus Posts unter und werden von Algorithmen nicht mehr empfohlen. So überprüfe niemand, welche Produkte ein Influencer in der Vergangenheit als seine Lieblinge deklariert hatte: “Vergessen ist ohnehin, womit sich der Influencer letzte Woche noch die Lippen pflegte oder die Haare wusch.”

Das Selbstbild der Influencer

Die Influencer selbst sehen sich laut Autoren zu einem großen Teil nicht als hauptberufliche Werbefiguren, sondern als “Entertainer, die nebenbei werben”. Diese Sicht ergebe sich aus dem Weg, den viele vor ihrer Karriere gegangen sind: Die erste YouTube-Generation bestand aus Jugendlichen, die vor der Kamera experimentierten und aus heutiger Sicht unbeholfen produzierte Sketche, Schmink- und Basteltipps und ähnliches online stellten. Der damalige Antrieb waren Aufmerksamkeit und Anerkennung, und nicht das Geld.

Werbewillige Unternehmen fanden dann prominente Unterhalter vor, deren Popularität und Reichweite für Werbezwecke genutzt werden konnte. Entsprechend habe “eine Professionalisierung stattgefunden, die weit weg ist von der improvisiert wirkenden Selfie-Ästhetik”. Die meisten Influencer seien heute mit professionellen Fotografen unterwegs, posierten “stundenlang für das perfekte Bild” und ließen dieses anschließend “wie bei einem Hochglanzmagazin” bearbeiten. Heute beginne kaum noch eine Social-Media-Karriere ohne ökonomisches Kalkül.

Fazit

Einige Leserinnen und Leser könnten sich an dem von einigen Rezensenten negativ erwähnten “herablassenden” Tonfall der Autoren stören. Doch dabei handelt es sich um eine Fehlinterpretation der nüchternen Sezierung des Influencertums und den entsprechend analytischen Formulierungen. Niemals formulieren die Autoren ihre Kritik polemisch oder unnötig verletzend. Und wer sich wie die Influencer bewusst der Öffentlichkeit präsentiert (und daraus Profit zieht), muss sich auch sachlicher Kritik stellen.

Nach der Lektüre fällt es schwer, dem Phänomen Influencer noch etwas Gutes abzugewinnen. Für Unterhaltung und Informationen über das Hauptthema hinaus sorgen auch die Einschübe Schmitts aus der Filmtheorie und -historie, die er in Bezug zu dem Material der Influencer setzt.

Die sozialgesellschaftlichen Einordnungen der Autoren bringen das oftmals emotional aufgeheizte Thema auf eine angenehm sachliche Ebene. Die kulturkritische Analyse hilft dabei, ein gesellschaftliches Phänomen nachzuvollziehen und Hintergründe zu verstehen – vor allem, wenn man selbst kein Konsument der Formate ist. Wer dem Influencertum schon vor der Lektüre kritisch gegenüberstand, dem liefert das Buch handfeste Argumente. Für selbige Zielgruppe bleibt aber auch die Frage unbeantwortet, warum die Formate trotz der Dauerwerbung, Vortäuschung falscher Tatsachen, fehlender Tiefe und kaum Mehrwert von so vielen Intenetnutzerinnen und -nutzern de facto konsumiert werden. Während des Lesens stört diese Informationslücke aber nicht, da stattdessen andere Analysepunkte im Fokus stehen. (hcz)

Titel: “Influencer: Die Ideologie der Werbekörper”
Autoren: Ole Nymoen und Wolfgang M. Schmitt
Gebundene Ausgabe: 192 Seiten
Verlag: Suhrkamp (7. März 2021)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 351807640X
ISBN-13: 978-3518076408
Preis: 15,00 EUR