Polizei Hamburg plant "intelligente" Videoüberwachung
Die Polizei Hamburg will in einem Pilotprojekt Kameras testen, die Aufnahmen mithilfe von Algorithmen auswerten. Die entsprechende Software wird seit 2018 vom Fraunhofer-Institut in Zusammenarbeit mit der Polizei Mannheim entwickelt und dort eingesetzt.
Ab Mitte Juli sollen am Hansaplatz im Hamburger Stadtteil St. Georg algorithmengestützte Kameras zunächst drei Monate lang erprobt werden. Der Platz wird aktuell bereits videoüberwacht. Laut Hamburger Abendblatt sind dort seit dem Jahr 2019 insgesamt 22 Kameras installiert, die zu bestimmten Uhrzeiten aktiviert werden – deren Bilder aber nicht automatisch ausgewertet werden.
Eine Sprecherin der Polizei Hamburg bestätigte die Pläne auf Anfrage von Posteo. Demnach soll die eingesetzte Software “atypische Bewegungsmuster” erkennen. Nach derzeitigem Stand zählten zu diesen Bewegungen “Liegen, Fallen, Taumeln, Treten, Schlagen, Schubsen, Anrempeln, Aggressive Körperhaltung und Defensive Körperhaltung”. Die Bilder der angeschlossenen Kameras würden von Algorithmen “live” auf auffällige Bewegungen hin ausgewertet.
Dabei erfolgt nach Polizeiangaben eine “digitale Skelettierung” von erfassten Personen – diese würden von der Software in “Strichfiguren” umgewandelt. Im Erkennungsfall sendet die Software ein Bild der Situation an Mitarbeitende des zuständigen Polizeikommissariats. Diese würden die Situation dann bewerten und können gegebenenfalls handeln. Eine Speicherung der durch die Software erzeugten Daten auf einer Festplatte zur retrograden Auswertung erfolge nicht.
Die Sprecherin betonte, die Software setze keine Gesichtserkennung ein und auch Alter, Geschlecht oder Ethnie würden nicht bestimmt. Der Fokus des Projektes liege nicht auf der Verfolgung Tatverdächtiger sondern darauf, Gefahrensituationen frühzeitig zu erkennen.
Vier der am Hansaplatz vorhandenen Kameras sollen für den Test genutzt werden. Die Entscheidung sei auf diesen Platz gefallen, weil dort die technische Infrastruktur bereits vorhanden ist und aufgrund des “Gefahrenortes” bereits eine Rechtsgrundlage vorliege. Laut Polizei handelt es sich beim Hansaplatz um einen Kriminalitätsbrennpunkt – die kriminalstatistische Entwicklung dort habe aber keinen Einfluss auf die Platzwahl gehabt.
Verdrängung befürchtet
Matthias Marx, Sprecher des Chaos Computer Club (CCC), kritisierte gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland (RND), es sei nicht bekannt, was von dem System als konformes Verhalten angesehen werde. Das könne dazu führen, dass Menschen ihr Verhalten bewusst oder unbewusst anpassen – weil sie beispielsweise Angst haben, einen Alarm auszulösen, wenn sie schnell gehen oder sich auf den Boden setzen. Das betreffe vor allem marginalisierte Gruppen wie Obdachlose.
Kritiker von Überwachungsmaßnahmen im öffentlichen Raum warnen regelmäßig vor diesen sogenannten “Chilling-Effekten”. Menschen könnten durch das Gefühl überwacht zu werden, beispielsweise auch von der Teilnahme an Demonstrationen abgehalten werden.
Laut RND hat Marx bei der Hamburger Polizei Einsicht in Dokumente zur Funktionsweise des Systems angefordert – dies sei ihm aber verwehrt worden. Er kritisiert, dadurch ließen sich die Angaben zum Datenschutz nicht überprüfen.
Zudem ist er der Ansicht, die sozialen Probleme würden durch die Kameras nicht gelöst. Die Drogenszene des Hamburger Hansaplatzes habe sich seit dem Aufbau der Überwachungskameras nur verlagert. Es werde immer häufiger versucht, soziale Probleme mit Technik zu lösen. Er forderte: “Stattdessen sollte man besser auf Aufklärung und Streetwork setzen.”
Auch Deniz Celik (Linke), Vizepräsident der Hamburgischen Bürgerschaft, sieht die Erprobung am Hansaplatz kritisch: Es liege der Verdacht nahe, dass der “Ausbau der Überwachung am Hansaplatz vor allem der Vertreibung von Obdachlosen und Betäubungsmittelkonsument:innen dient”. Seiner Ansicht nach wären aber soziale Hilfen anstatt “vermeintlich smarter Technologie” gefragt.
Celik kritisierte am Dienstag: “Die Hamburger Polizei will ganz offensichtlich den ‘gläsernen Bürger’ und scheint in ihren Überwachungswünschen keine Grenzen zu kennen.” Es sei ein “Irrglaube”, dass durch die Software “keine Persönlichkeitsrechte tangiert werden”. Die Software entscheide darüber, welches Verhalten “auffällig” ist – die Linksfraktion lehne diese “Form der Verhaltensüberwachung” entschieden ab.
Datenschutzbeauftragter prüft Vorhaben
Auch der Hamburgische Beauftragte für Datenschutz beschäftigt sich nun mit den Plänen der Polizei. Eine Behördensprecherin erklärte auf Anfrage von Posteo, der Datenschutzbeauftragte sei “aufgrund einer Pressemeldung an die Polizei herangetreten”. Er habe sich zunächst die datenschutzrechtlich relevanten Unterlagen vorlegen lassen, die vor Inbetriebnahme erstellt werden müssen – diese seien in der vergangenen Woche bei der Behörde eingegangen. Außerdem solle die Maßnahme auch vor Ort geprüft werden. “Eine datenschutzrechtliche Einschätzung ist daher zu diesem Zeitpunkt noch nicht abschließend möglich”, so die Sprecherin weiter.
Sie fügte hinzu, bei “intelligenter Videoüberwachung” handle es sich immer um einen eigenständigen Schritt der Datenverarbeitung im Anschluss an die Erhebung von Daten durch Videoaufnahmen. “Smarte Auswertungssysteme können den Datenschutz unter Umständen stärken, aber auch je nach Ausgestaltung einen intensiveren Eingriff bedeuten. Das ist wie jetzt hier im Einzelfall zu prüfen.”
Test in Mannheim seit 2018
Das System, das die Polizei in Hamburg einsetzen will, wird bereits seit dem Jahr 2018 in Mannheim erprobt. Der dort zuständige Landesdatenschutzbeauftragte Stefan Brink hatte damals einen Vorteil für den Datenschutz in der Technik gesehen, weil nur verdächtige Szenen und nicht das gesamte Bildmaterial gesichtet werde.
Das System wird vom Fraunhofer-Insitut für Optronik, Systemtechnik und Bildauswertung (IOSB) entwickelt, laut Polizei Hamburg “in enger Zusammenarbeit mit der Polizei Mannheim”. Die Polizei Hamburg erklärte, die Software werde sowohl mit Echtdaten der angeschlossenen Kameras trainiert, als auch mit Situationsnachstellungen durch Polizeitrainer. Eine Sprecherin des baden-württembergischen Innenministeriums gab gegenüber dem RND an, die dortige Testphase laufe noch bis Ende November. Die Entscheidung über eine Verlängerung stehe noch aus.
Berichten zufolge konnte das System im Jahr 2020 bereits grobmotorische Bewegungen wie Schlagen, Treten oder Fallen erkennen. Dabei kam es aber zu Fehlalarmen, weil der Unterschied zu harmlosen Bewegungen wie einer Umarmung nicht zuverlässig erkannt wurde. Diese Probleme bestehen auch nach Jahren der Entwicklung, wie die Nachrichtenagentur dpa vor wenigen Tagen berichtete.
Wie die Polizei Hamburg gegenüber Posteo erklärte, soll mit dem aktuellen Test der technische “Reifegrad” des Systems sowie die “Skalierbarkeit auf eine Hamburger Umgebung” geprüft werden. So sollen auch “Erkenntnisse hinsichtlich einer möglichen Einführung” erlangt werden.
Bürgerschaftsvizepräsident Celik sagte dazu, die Mannheimer Software sei “keineswegs so ‘smart’ wie erhofft” und erkenne Verhaltensmuster nur unzuverlässig. Er kritisierte: “In dieser Phase die Technik nun auch in Hamburg einsetzen zu wollen, ist völlig übereilt und im Hinblick auf das Recht auf informationelle Selbstbestimmung fahrlässig.”
Nach Angaben der dpa hat auch die Stadt Heidelberg Interesse an dem System bekundet und stehe dazu in Kontakt mit dem Polizeipräsidium Mannheim. (js)