Tübingen muss Migrantenlisten löschen

Tübingen
Der Bürgermeister Tübingens würde gerne auffällige Migranten aus der Stadt verbannen. (Quelle: Rabe! – CC BY-SA 3.0)

Tübingen darf keine Listen über angeblich “auffällige” Asylbewerber mehr führen. Der Landesdatenschutzbeauftragte von Baden-Württemberg, Stefan Brink, hat die Stadt zudem dazu verpflichtet, alle erfassten Daten zu löschen. Um die Listen hatte es lange Streit gegeben.

Hintergrund ist, dass Tübingen auf Anordnung des Oberbürgermeisters Boris Palmer seit Anfang 2019 eine “Liste der Auffälligen” führt, in der die Verwaltung Geflüchtete erfasst, die angeblich als gefährlich anzusehen sind. Was genau zur Aufnahme auf die Liste führen konnte, blieb trotz Nachfrage des Datenschutzbeauftragten unklar. Es soll allerdings keine Kontrolle durch ein Gericht oder die Staatsanwaltschaft in einem rechtsstaatlichen Verfahren gegeben haben.

Behördliche Willkür

Personen konnten so potentiell willkürlich auf die “Liste der Auffälligen” gelangen, ohne dass sie eine rechtliche Handhabe gegen die Maßnahme hatten. Auch gab es keine Möglichkeit für sie, die Daten einzusehen oder zu berichtigen. Kam eine Person auf die Liste, konnte dies offenbar gravierende Folgen haben: Laut der Nachrichtenseite netzpolitik.org wurden einige Geflüchtete in spezielle Unterbringungen verlegt, die von Sicherheitspersonal bewacht werden. Offiziell diente die Liste dazu, Behördenmitarbeiter vor den angeblich gefährlichen Personen zu schützen. Konkrete Übergriffe auf Beamte lagen aber nicht zugrunde.

In einem Fragenkatalog der Tübinger Flüchtlingshilfen an die Gemeinderatsfraktionen im Jahr 2019, wollten die Verfasser die Bedingungen erfahren, die zu einem Platz auf der Liste führen. Das Schreiben blieb aber unbeantwortet.

Die Flüchtlingshilfe wollte auch wissen, ob Betroffene informiert werden. Palmer, dem die Fragen in Kopie geschickt wurden, beantwortete sie nicht, sondern veröffentlichte den Fragenkatalog auf Facebook und kommentierte ihn.

Daten zweckentfremdet

Der Datenschützer begründet die jetzt angeordnete Löschung in einer Mitteilung mit dem Prinzip der Zweckbindung: Die Liste sei rechtswidrig, weil sie sich aus Informationen speise, die die Polizei aus rechtlichen Gründen an die Ausländerbehörde weitergibt. Die Daten würden allerdings einer Zweckbindung unterliegen: Sie dürfen nur für ausländerrechtliche Angelegenheiten genutzt werden und nicht für die allgemeine Verwaltung.

Laut Landesdatenschutzbeauftragten habe die Verarbeitung, “wie sie hier erfolgt, indem die Daten nach Art einer ‘blacklist’ verwendet werden, um gegebenenfalls Dritte zu warnen, mit dem ursprünglichen ausländerrechtlichen Zweck nichts mehr zu tun”. Es fehle eine gesetzliche Grundlage. Zudem konnte die Stadt in keinem Fall beweisen, dass von den erfassten Personen tatsächlich eine Gefahr für Behördenmitarbeiter ausgeht. Es handele sich um bloßen Verdacht. Solche “Gefährderlisten” auf Grundlage eines bloßen Verdachts aufzustellen, der rechtsstaatlich nicht überprüft wurde, verletze die Rechte der Geflüchteten.

Stadt stellt sich quer

Die Klärung mit der Stadt habe sich äußerst mühsam gestaltet, teilte Brink mit. Selten habe er solchen Unwillen einer Behörde festgestellt, seine Anfragen zu beantworten. Angeforderte Unterlagen wurden erst nach Monaten herausgegeben, einige würden bis heute fehlen.

Auch ein persönliches Gespräch vor Ort hatte zu keinem Ergebnis geführt. Die dem Fall zugrundeliegenden Vorschriften entstammen der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO), die seit über zwei Jahren gilt. Laut Mitteilung machte der Datenschützer nun das erste Mal von der Befugnis Gebrauch, einer Kommune rechtswidrige Datenverarbeitungen zu untersagen.

Auch technisch stand die Liste offenbar auf wackeligen Beinen: Laut netzpolitik.org hatte sich bei einer Gemeinderatssitzung im März 2019 herausgestellt, dass es sich bei der “Liste der Auffälligen” nicht um eine klassische Datenbank handelt. Stattdessen würden die Personen in einem Outlook-Postfach gelistet, auf das verschiedene Verwaltungsabteilungen Zugriff hätten. Ob die Speicherart im Anschluss an die Berichterstattung geändert wurde, ist unklar. Der Datenschutzbeauftragte monierte diesen Umstand zumindest aktuell nicht.

Menschenverachtende Äußerungen

Boris Palmer war bereits früher durch obskure Forderungen im Zusammenhang mit Migranten aufgefallen: So hatte er beispielsweise in einem Facebook-Eintrag gefordert, problematische Asylsuchende sollten “Raus aus dem Sozialraum Stadt” und schlug vor, sie zurück in die Landeserstaufnahmeeinrichtungen zu schicken. Der baden-württembergische CDU-Innenminister Thomas Strobl erteilte Palmers Forderung gegenüber den Stuttgarter Nachrichten eine Absage und wies darauf hin, dass sie jeglicher Rechtsgrundlage entbehre.

Im selben Facebook-Post vom Januar 2019 dokumentiert Palmer seine generelle Voreingenommenheit gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen weiter: Am Hauptbahnhof habe er beobachtet, wie mehrere junge Männer lautstark aneinander geraten seien. Unter ihnen seien auch “Schwarzafrikaner” gewesen, niemand habe Deutsch gesprochen. Der Bürgermeister urteilt pauschal aufgrund ihres Aussehens und schreibt, sie seien “augenscheinlich alle Migranten” gewesen.

Dabei handelte es sich nicht um den einzigen Fall problematischer Äußerungen. Jüngst löste er mit einem Interview neue Kontroversen aus, weil er in Bezug auf die Corona-Pandemie sagte: “Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.”

Anfang Mai forderten Parteikollegen der Südwest-Grünen den Oberbürgermeister zum Parteiaustritt aus, da er laut Landesvorstand “systematisch gegen unsere Partei [agiert], indem er sich mit seinen Äußerungen gegen politische Werte und politische Grundsätze unserer Partei stellt”. Der Deutschen Presse-Agentur sagte der Politiker, dass er Mitglied bleiben möchte. Grünen-Chefin Annalena Baerbock kündigte an, dass ihn die Parteispitze bei einer weiteren Kandidatur in Tübingen nicht mehr unterstützen werde. (hcz)