Türkei: Algorithmus sollte angebliche Putschisten aufspüren

Türkische Flagge
Auch Angehörige der Betroffenen mussten mit Strafen rechnen. Statewatch kritisiert, das habe gegen die Menschenrechte verstoßen. (Quelle: Vladimer Shioshvili – CC BY-SA 2.0)

In der Türkei wurde nach dem Putschversuch im Jahr 2016 mit einem Algorithmus nach Anhängern der sogenannten Gülen-Bewegung innerhalb des Militärs gesucht. Mehr als 13.000 Militärangehörige wurden auf Basis dieser Auswertung entlassen, heißt es in einem neuen Bericht der Organisation Statewatch. Bei der Untersuchung sei die Privatsphäre der Betroffenen verletzt worden – einige seien zudem gefoltert worden.

Die türkische Regierung macht die Gülen-Bewegung, die sie FETÖ nennt, für den Umsturzversuch im Juli 2016 verantwortlich. Infolgedessen wurden in der Türkei über 30 Notstandsdekrete erlassen, die zu einer starken Beschneidung von Rechten geführt hätten, heißt es in dem Statewatch-Bericht. Die Regierung habe damals auch begonnen, mithilfe von Algorithmen nach Menschen zu suchen, die angeblich Teil der Gülen-Bewegung waren. Das bekannteste System sei das sogenannte FETÖ-Meter gewesen – ein Punktesystem, anhand dessen Verbindungen zu den mutmaßlichen Putschisten nachgewiesen werden sollten. Unklar bleibt, ob dieses System auch heute noch eingesetzt wird.

Der Bericht stützt sich auf Aussagen von zehn hochrangigen ehemaligen Offizieren, die inzwischen in der EU Asyl beantragt haben. Außerdem haben die Autoren Medienberichte, Erklärungen der Behörden und Berichte von Menschenrechtsorganisationen ausgewertet. Die Existenz des FETÖ-Meters ist bereits seit 2018 bekannt – damals wurde der Ausnahmezustand in der Türkei beendet.

Ali Yıldız, Rechtsanwalt und einer der Autoren des Berichts, sagte: “Tausende von Menschen wurden arbeitslos, inhaftiert und verfolgt, weil sie durch ein Verfolgungsinstrument, das sogenannte FETÖ-Meter, ‘bewertet’ wurden.”

Scheidungen und Gesundheitsdaten ausgewertet

Mindestens 810.000 ehemalige und aktive Militärangehörige sollen zwischen 2016 und 2018 von dem Algorithmus durchleuchtet worden sein. Dieser basiere auf bis zu 97 Haupt- und 290 Unterkriterien, auf deren Grundlage Punkte vergeben wurden. Diese bestimmten beispielsweise, ob eine Person beobachtet, suspendiert oder entlassen werden sollte.

Dafür wurden beispielsweise Aspekte des Privatlebens herangezogen: Etwa, ob sich Betroffene zwischen 2015 und 2016 scheiden ließen oder ob es in ihren Gesundheitsakten Auffälligkeiten gab. Weitere Kriterien betrafen die berufliche Laufbahn: So wurde der Beginn der militärischen Ausbildung oder der Besuch von Sprachkursen durch den Algorithmus bewertet.

Außerdem spielte es eine Rolle, ob die Betroffenen und ihre Verwandten die Messenger-App Bylock genutzt hatten – diese wurde von der Regierung mit dem Putschversuch in Verbindung gebracht. Ebenso flossen Mitgliedschaften in verbotenen Organisationen oder Gewerkschaften in die Bewertung ein.

Ohne rechtliche Grundlage

Für den Einsatz sei das “Amt für Gerichtsverfahren und Verwaltungsmaßnahmen” verantwortlich gewesen, das der Personalabteilung der Marine unterstellt war. Die Daten seien einfach bei den zuständigen Stellen abgefragt worden. So wurden beispielsweise Finanzdaten des türkischen Einlagensicherungsfonds herangezogen, um Militärangehörige zu identifizieren, die ein Konto bei der mit der Gülen-Bewegung verbundenen Asya-Bank hatten. Auch Telefonverbindungen sollen ausgewertet worden sein. Für die Verarbeitung all dieser Daten habe es jedoch keine rechtliche Grundlage gegeben, kritisieren die Autoren des Berichts: Persönliche Daten seien eigentlich durch die türkische Verfassung geschützt.

Alle von Statewatch befragten Militärs wurden zwischen Oktober 2016 und Dezember 2017 aufgrund von angeblichen Verbindungen zur Gülen-Bewegung aus dem Militärdienst entlassen. Einer berichtete den Autoren, er sei entlassen worden, weil seine Schwester ein Konto bei der Asya-Bank hatte: “Sie war eine Geschäftsfrau. Sie hatte Bankkonten bei mehr als zehn verschiedenen Banken. Eines davon war zufällig bei der Asya-Bank. Sie wies nach, dass sie es nur für geschäftliche Zwecke nutzte – aber ich wurde deshalb dennoch entlassen.”

Ein anderer Interviewpartner hatte selbst drei Monate in der für die Datenauswertung zuständigen Stelle gearbeitet: “Ich war dafür verantwortlich, die Informationen auf diesen Listen in die Datenbank des Personalsystems zu übertragen. Tausende von Offizieren und Befehlshabern waren mit ihren Dienstgraden vor 2016 aufgeführt; einige waren in der Liste, obwohl sie tot waren.”

Soziales Umfeld betroffen

Einige der befragten Militärs wurden zudem verhaftet und berichteten über Einschüchterungen und Foltermethoden wie Schlafentzug durch das Militär. Auch Familienangehörige und Freunde seien verhaftet und gefoltert worden. So sagte ein Militär: “Kurz nach meiner Festnahme wurden auch mein Vater und meine Frau verhaftet, wahrscheinlich um mich zur Zusammenarbeit mit den Behörden zu bewegen.”

Der Bericht kritisiert, die meisten Kriterien des FETÖ-Meters hätten rechtswidrig in das Privatleben eingegriffen. Die Auswahl der Daten sei willkürlich erfolgt – die wahre Motivation sei gewesen, gegen bestimmte Militärangehörige vorzugehen. Alltägliche Aktivitäten seien durch den Algorithmus als terroristisch kriminalisiert worden. Weil auch das soziale Umfeld der Beschuldigten bestraft wurde, spricht der Bericht von “Schuld durch Assoziation” – was in eklatanter Weise gegen grundlegende Menschenrechte und Prinzipien des modernen Strafrechts verstoße.

Mitautor Yıldız kritisierte: “Diese Situation ist nicht auf die Türkei beschränkt: In einer zunehmend vernetzten Welt, in der Staaten verstärkt auf Überwachungsinstrumente zur Terrorismusbekämpfung zurückgreifen, ist die Wahrscheinlichkeit, Opfer einer algorithmischen Verfolgung zu werden, hoch.” Der Bericht sei ein Weckruf, um das Bewusstsein für die “verheerenden Auswirkungen” zu schärfen, die der Einsatz von Algorithmen bei der Strafverfolgung haben kann. (js)