Taliban haben Zugriff auf biometrische Daten
Die radikalislamischen Taliban haben biometrische Geräte und Daten der US-Armee erbeutet. Das berichtet das investigative Online-Magazin The Intercept unter Berufung auf aktuelle und ehemalige Mitarbeiter des US-Militärs. Menschenrechtler warnen, damit ließen sich nun Personen identifizieren, die beispielsweise mit ausländischen Armeen zusammengearbeitet haben.
Die Menschenrechtsorganisation Human Rights First warnt, sie habe erfahren, dass die Taliban Zugriff auf Datenbanken mit Fingerabdrücken, Iris-Scans und Gesichtserkennungstechnologie haben. Das Online-Magazin The Intercept berichtet, die Taliban hätten seit der vergangenen Woche Geräte zur biometrischen Identifizierung in ihrem Besitz, die zuvor vom US-Militär verwendet wurden. Das Büro des amerikanischen Verteidigungsministers habe auf eine Anfrage von The Intercept nicht reagiert.
Bei den Geräten soll es sich um sogenanntes Handheld Interagency Identity Detection Equipment (HIIDE) handeln. Damit lassen sich Fingerabdrücke, Iris-Scans und Gesichtsbilder erfassen und mit einer internen Datenbank abgleichen. The Intercept berichtet zudem, dass die Geräte weitere Informationen zu den erfassten Personen anzeigen – und auch den Zugriff auf große zentrale Datenbanken ermöglichen.
Afghanische Helfer des US-Militärs erfasst
Ursprünglich wurden die Geräte vom US-Militär eingesetzt, um mutmaßliche Terroristen und Aufständische zu identifizieren. Die britische Zeitung The Guardian hatte bereits im Jahr 2010 berichtet, wie amerikanische Soldaten mit den Geräten biometrische Daten von Personen erfassen, um sie mit denen von gesuchten Personen abzugleichen. Allerdings wurden auch die biometrischen Daten von Personen gesammelt, die mit dem Militär zusammengearbeitet haben. Ein US-Militärangehöriger erklärte The Intercept, die Geräte seien auch bei Sicherheitschecks zum Einsatz gekommen. Damit seien einheimische Ortskräfte identifiziert worden.
Der US-Sender NPR berichtet, das Pentagon habe langfristig das Ziel gehabt, 80 Prozent der afghanischen Population biometrisch zu erfassen.
Die britische Organisation Privacy International hatte erst im Mai 2021 eine Fallstudie zur Verwendung biometrischer Daten durch das US-Militär in Afghanistan veröffentlicht. Darin heißt es, militärische Leitlinien hätten empfohlen, das Sammeln biometrischer Daten zum Teil jeder Operation zu machen. Auch die Daten von Bewerbern für die afghanische Polizei und Armee seien gespeichert worden.
Ob die Taliban die mit HIIDE gesammelten Daten bereits nutzen, sei unklar: Ein ehemaliger Militärangehöriger erklärte The Intercept, es könnten zusätzliche Werkzeuge nötig sein, um die Daten zu verarbeiten. Es sei aber möglich, dass der pakistanische Geheimdienst dabei helfen werde. Unklar ist auch, um wie viele Datensätze es sich handelt.
Biometrische Daten lassen sich nicht ändern
Biometrische Merkmale sind besonders sensibel, da sie sich nicht verändern lassen. Personen können so ein Leben lang über sie identifiziert werden. Außerdem gelten Systeme zur Erfassung solcher Daten als fehleranfällig. Personen können also fälschlicherweise als eine andere Person erkannt werden – mit möglicherweise weitreichenden Konsequenzen.
Welton Chang von Human Rights First sagte der Thomson Reuters Foundation, durch diese Daten sei es viel schwieriger, die eigene Identität zu verschleiern. Er warnte, mit den Daten ließe sich in Afghanistan auch eine neue Klassenstruktur etablieren. So könnten beispielsweise bei Arbeitsangeboten Bewerber aussortiert werden, die Verbindungen zur früheren Regierung oder den Sicherheitskräften haben.
Als “schlimmsten Fall” bezeichnete Chang die Möglichkeit, die Daten zu verwenden, um jede Person ins Visier zu nehmen, die für die frühere Regierung gearbeitet hat, in einer internationalen Organisation tätig war oder sich für die Menschenrechte eingesetzt hat.
The Intercept sagte Chang, er glaube nicht, dass sich die Verantwortlichen jemals Gedanken über den Datenschutz gemacht hätten oder über den Fall, dass das HIIDE-System in die falschen Hände gelangt.
Afghanische Regierung hat biometrische Daten verwendet
Unklar ist, ob die Taliban darüber hinaus auch Zugriff auf andere biometrische Datenbanken haben. Denn auch die afghanische Regierung hatte Daten zur Identifizierung von Menschen gesammelt: So wurden bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 Fingerabdruckscanner und Gesichtserkennungstechnik verwendet, um Wählerinnen und Wähler zu identifizieren.
Anlässlich der aktuellen Berichte nannte die Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg (Linke) das Sammeln der biometrischen Daten durch das US-Militär auf Twitter eine “krasse Verletzung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Bevölkerung eines Drittstaates”. Dies sei “abstoßend” und “jetzt kreuzgefährlich”. Auch ohne die Taliban seien solche Datenbanken durch Lücken in der IT-Sicherheit angreifbar. Sie fragte: “Verstehen jetzt alle, warum derartige Datenbanken gefährlich sind?”
In den vergangenen eineinhalb Wochen hatten die Taliban fast alle Provinzhauptstädte in Afghanistan eingenommen. Am Wochenende waren sie dann in die Hauptstadt Kabul eingerückt und hatten den Präsidentenpalast besetzt.
Offiziell haben sie eine allgemeine Amnestie verkündet – es werde keine Vergeltung geübt. Viele Menschen haben jedoch Angst, dass sich die Taliban an Afghanen rächen, die mit ausländischen Kräften zusammengearbeitet haben. International gibt es außerdem große Besorgnis um die Rechte der Frauen und die Pressefreiheit.
Berichten zufolge ist es in Afghanistan bereits zu ersten Demonstrationen gegen die Taliban gekommen, die gewaltsam aufgelöst wurden. Dabei seien mehrere Menschen gestorben. (js)