Wirbeltierbestände schrumpfen weltweit seit Jahrzehnten
Weltweit nehmen die Bestände von Wirbeltieren ab. Die Populationen von Säugetieren, Amphibien, Reptilien, Vögeln und Fischen seien in den vergangenen 50 Jahren im Durchschnitt um 73 Prozent geschrumpft, teilte der World Wide Fund for Nature (WWF) in einem am Donnerstag erschienenen Bericht mit. Ausgewertet wurden Daten zu mehr als 5.500 Wirbeltierarten und insgesamt 35.000 Populationen. Trotz Schutzmaßnahmen bleibe der Trend bei der Biodiversität insgesamt negativ. Die Tierschutzorganisation warnt zudem davor, dass ökologische Kipppunkte beispielsweise bei der Klimaerwärmung oder der Zerstörung von Ökosystemen künftig überschritten werden könnten und weitere Negativfolgen für die Tierpopulationen nach sich ziehen.
Den stärksten Rückgang mit 85 Prozent stellte die Organisation bei Süßwasserökosystemen fest, gefolgt von Land- (69 Prozent) und Meeresökosystemen (56 Prozent). Süßwasserfische litten besonders unter Eingriffen in ihre Lebensräume – wie baulichen Veränderungen entlang ihrer Wanderrouten. Viele der erfassten Meeresfischarten würden wirtschaftlich genutzt. Aber durch Schutz- oder Fangquoten hätten sich einige Bestände erholen können. Der Zustand von Hai- und Rochenpopulationen sei aber unverändert kritisch, wie es in dem Bericht heißt.
Biologische Vielfalt sichere direkt und indirekt das Überleben der Menschen, heißt es in dem Bericht. Kathrin Samson, Vorständin beim WWF machte darauf aufmerksam, dass die Menschheit die eigenen Lebensgrundlagen zerstört. “Unsere Gesundheit, unsere Lebensmittelversorgung, unser Zugang zu sauberem Wasser, die Stabilität der Wirtschaft und erträgliche Temperaturen sind abhängig von intakten Ökosystemen und gesunden Wildtierbeständen. Was wir für ein gutes und sicheres Leben benötigen, steht durch unsere Lebensweise auf dem Spiel.”
Exportierte Umweltzerstörung
Ein Beispiel für bedrohte Populationen ist der Atlantische Kabeljau beziehungsweise Dorsch, der im Nordatlantik und in der westlichen Ostsee lebt. Seine Lage ist laut Untersuchung “dramatisch”, denn der Bestand brach zwischen den Jahren 2000 und 2023 um 77 Prozent ein. Ebenso gefährdet seien die Populationen der Amazonas-Rosa-Flussdelfine und die der kleineren Tucuxi-Delfine im brasilianischen Mamirauá-Schutzgebiet. Von 1996 bis 2016 gingen sie um 65 Prozent beziehungsweise 75 Prozent zurück. Allein eine Hitzeperiode inklusive Dürre im Jahr 2023 hätte mehr als 330 Flussdelfine in nur zwei Seen das Leben gekostet.
Die am stärksten betroffenen Regionen sind Lateinamerika und die Karibik (95 Prozent), Afrika (76 Prozent) sowie die Asien-Pazifik-Region (60 Prozent). Dass die biologische Vielfalt in Lateinamerika und Afrika schrumpft, liege auch an Belastungen, die in anderen Regionen ihre Ursache haben; wie der Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen oder Rohstoffen. So habe beispielsweise der Konsum der europäischen Bevölkerung einen Einfluss auf die Natur der fernen naturreichen Regionen, weil von dort importiert wird, heißt es in dem Bericht.
Ursachen sind zahlreich
Alle Ursachen für das Artensterben seien menschengemacht, erklärt der WWF. Lebensräume von Tierarten würde der Mensch durch Veränderungen verschlechtern oder gar völlig zerstören. Habitate würden beschädigt durch nicht nachhaltige Landwirtschaft, Holzeinschlag, Verkehrswegebau, Flächenverbrauch für Wohn- und Gewerbegebiete, Energieanlagen und Bergbau. Flüsse und Bäche nähmen Schaden durch Begradigung und Aufstauung, Meereslebensräume durch Baggerarbeiten und Grundschleppnetzfischerei.
Weitere menschengemachte Bedrohungen seien Übernutzung durch Jagd und Wilderei, der Klimawandel, Umweltverschmutzung sowie Arten und Krankheiten, die vom Menschen in neue Gebiete eingeschleppt werden oder infolge des Klimawandels sich weitläufiger verbreiten.
Je nach Weltregion fallen bestimmte Bedrohungen schwerer ins Gewicht beim Schrumpfen der Populationen als andere: In Afrika dienten große Säugetiere – besonders für die Landbevölkerung – als Ressource. Entsprechend sei besonders Übernutzung eine Gefahr für die Populationen. In den teils inselreichen Regionen Asiens und des pazifischen Raumes fallen neben der Lebensraumzerstörung und Übernutzung die häufige Bedrohung durch invasive Arten und Krankheiten auf. Zudem mache sich der Klimawandel dort schon stärker bemerkbar.
In Europa und Zentralasien sei die Zerstörung von Lebensraum die entscheidende Bedrohung für die einheimische Biodiversität. Hinzu kämen Umweltverschmutzung und das Auftreten invasiver Arten. Ein Effekt durch den Klimawandel sei hingegen noch nicht so deutlich zu erkennen.
In Lateinamerika und der Karibik gehe viel Biodiversität durch die Umwandlung von Wäldern, Grasland und Feuchtgebieten verloren. Auch Übernutzung einiger Tiergruppen und der Klimawandel sind ein Problem. In Nordamerika seien Bedrohungen durch Umweltverschmutzung und invasive Arten vergleichsweise deutlich ausgeprägt.
Schutzmaßnahmen wirken
Angesichts der Lage fordert der WWF die Weltgemeinschaft auf, die Bemühungen zum Schutz der Artenvielfalt und der Ökosysteme zu verstärken. “Wir müssen mit neuen Strategien und Konzepten reagieren, um an Artenvielfalt zu retten, was in den nächsten Jahren noch zu retten ist”, schreibt der WWF. Es müssten beispielsweise mehr Schutzgebiete ausgerufen, die Rechte und Bedürfnisse indigener Völker geachtet und sogenannte naturbasierte Lösungen gefunden werden. Zudem fordert die Organisation eine Transformation der Nahrungsmittelproduktion sowie der Energie- und Finanzsysteme.
Dass auch Maßnahmen zum Artenschutz helfen, zeigt der Bericht an verschiedenen einzelnen Arten: Das Wisent beispielsweise war in freier Wildbahn ausgestorben. Heute gäbe es wieder rund 6800 Tiere, die in Europa größtenteils in geschützten Gebieten leben. Ein weiteres Beispiel seien die Berggorillas im Virunga-Bergmassiv, deren Population mittlerweile wieder rund 700 Exemplare beträgt.
“Die nächsten fünf Jahre sind entscheidend für die Zukunft des Lebens auf unserer Erde”, mahnt WWF-Vorständin Samson. “Noch können wir das Ruder herumreißen und den Verlust der biologischen Vielfalt aufhalten.” Dafür müsse aber die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft schneller vorangehen.
Der WWF veröffentlicht den “Living Planet Report 2024” seit den 1970er-Jahren. Er soll Veränderungen in der globalen Biodiversität dokumentieren. Für den aktuellen Bericht hat der WWF zusammen mit der Zoologischen Gesellschaft London fast 35.000 globale Populationen von knapp 5500 Wirbeltierarten auf der ganzen Welt untersucht. (hcz)