Äthiopien: Internetsperre seit mehr als 300 Tagen

Telekommunikationsshop in Hawzen, Tigray
Die äthiopische Regierung hatte im November 2020 eine Militäroffensive in der Region Tigray gestartet. (Quelle: IMAGO / VWPics)

In der äthiopischen Region Tigray ist das Internet seit Beginn eines militärischen Konfliktes im vergangenen November gesperrt. Die Bürgerrechtsorganisation Access Now hat dokumentiert, welche Auswirkungen das auf die Menschen vor Ort hat. Sie kritisiert, dass die Berichterstattung aus der Region durch die Internetblockade erschwert wird.

Anfang November 2020 war in Tigray ein bewaffneter Konflikt ausgebrochen. Am 4. November 2020 stellte die Organisation NetBlocks eine Internetsperre fest; zumindest zwischenzeitlich funktionierten zudem Telefonverbindungen nicht mehr. Das Internet ist mittlerweile seit mehr als 300 Tagen blockiert: Auch aktuell funktioniert es in der Region weder über Festnetzanschlüsse noch über Mobilfunk, berichtet Access Now.

Für die knapp sieben Millionen Menschen in Tigray sei es durch die Internetsperre und unterbrochene Telefonverbindungen extrem schwierig, mit ihren Familien in Kontakt zu bleiben – was auch Auswirkungen auf ihre psychische Gesundheit habe. Teilweise hätten Menschen durch die Internetblockade Schwierigkeiten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.

Kein Kontakt zu Familien

Mehrere Personen berichteten Access Now, dass sie von ihren Familien isoliert seien. Der Student Ashenafi erzählte: “Ich lebe ein furchtbares Leben, weil ich nicht weiß, ob und wann ich vom Tod meiner Angehörigen erfahren werde.” Auch wisse er nicht, ob seine Familie mit Wasser und Lebensmitteln versorgt sei. Die Internetsperre habe außerdem Auswirkungen auf sein Studium. Eine weitere Person sagte, sie wisse nichts über den Verbleib vieler ihrer Freunde.

Zara, eine Softwareentwicklerin aus Deutschland, war im vergangenen Jahr nach Tigray gereist, nachdem ihr Vater dort verstorben war. Wenig später brach der Konflikt aus. Aufgrund der Kommunikationssperre konnte sie ihre Familie in Deutschland nicht erreichen. Auch konnte sie die deutsche Botschaft nicht kontaktieren, um einen Weg aus der Region zu finden. Mittlerweile ist sie zurück in Deutschland, hatte jedoch seit Monaten keinen Kontakt mehr zu ihren Angehörigen in Tigray.

Eine weitere Person bezeichnete die Internetsperre gegenüber Access Now als “größten Albtraum” der ihr Leben verändert habe – insbesondere angesichts von Berichten über Menschenrechtsverletzungen sei die Sorge um ihre Familie eine “extreme Qual”.

Außerdem berichteten mehrere Betroffene, es sei für sie nun schwieriger zu arbeiten und sich selbst zu versorgen. Die wirtschaftliche Lage in Tigray verschlechtere sich durch die Internetsperre weiter.

Internetsperre erschwert die Arbeit von Menschenrechtlern

Bereits Ende Juli hatte Access Now gemeinsam mit weiteren Organisationen alle am Konflikt beteiligten Parteien aufgefordert, die Internetsperre in Tigray zu beenden. Sie dürften das Internet nicht willkürlich abschalten um zu verhindern, “dass die Welt Zeuge ihres erschütternden Handelns wird”, kritisierte Marianne Díaz Hernández von Access Now.

Die Organisation warnt, ohne Internetzugang sei es für Medienschaffende und Menschenrechtler schwierig, Menschenrechtsverletzungen in Tigray aufzudecken und zu dokumentieren.

Die Spannungen in Äthiopien dauern seit einigen Jahren an: Die Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF) war viele Jahre lang die bestimmende Kraft in Äthiopien – bis zur Wahl von Abiy Ahmed zum Ministerpräsidenten im Jahr 2018. Seitdem ist die TPLF nicht mehr an der Regierung beteiligt. Als die Zentralregierung im September 2019 alle geplanten Wahlen wegen der Corona-Pandemie abgesagt hatte, ließ die Regionalregierung in Tigray dennoch wählen. Die TPLF erkennt den Friedensnobelpreisträger Abiy seitdem nicht mehr als Ministerpräsidenten an, dieser wiederum spricht der Regionalregierung ihre Legitimation ab.

Anfang November 2020 rief der Ministerpräsident dann eine Militäroffensive gegen die Volksbefreiungsfront aus. Angeblich hatte die TPLF zuvor einen Militärstützpunkt der Zentralregierung überfallen. Unterstützung erhielt die äthiopische Armee von Milizen der Region Amhara und der Armee des diktatorisch regierten Nachbarlandes Eritrea. Mittlerweile hat der militärische Arm der TPLF den größten Teil Tigrays zurückerobert.

Finnlands Außenminister Pekka Haavisto war im Februar im Auftrag der EU nach Äthiopien gereist und hatte dort Gespräche mit Regierungschef Abiy geführt. Anschließend kritisierte er: “Wir sind in einer Situation, die militärisch, mit Blick auf Menschenrechte und humanitär völlig außer Kontrolle ist.” Die EU und die USA hatten zudem den Rückzug der eritreischen Streitkräfte aus Tigray gefordert.

Berichte über Menschenrechtsverletzungen

Aus der Konfliktregion hatte es wiederholt Berichte über schwere Menschenrechtsverletzungen gegeben, etwa über Massentötungen durch das äthiopische Militär. Anfang September hatte Äthiopien wiederum den Tigray-Rebellen ein Massaker an Zivilisten vorgeworfen.

Amnesty International hatte zudem im August berichtet, wie Angehörige der äthiopischen Streitkräfte, des eritreischen Militärs sowie Milizen aus Amhara in der Konfliktregion auf grausame Weise sexualisierte Gewalt an Mädchen und Frauen als Kriegswaffe einsetzen.

Erst am Montag hatte die Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen, Michelle Bachelet, im UN-Menschenrechtsrat über die anhaltenden Kämpfe in Tigray gesprochen. Dabei erwähnte sie auch Berichte über willkürliche Verhaftungen von ethnischen Tigray-Zivilisten, Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten sowie die Abschaltung des Internets.

Ein UN-Bericht zu den Menschenrechtsverletzungen war für diesen Monat geplant, soll nun aber erst im November erscheinen. Aus Sicherheitsgründen hätten Expertinnen und Experten Teile Tigrays nicht besuchen können, so Bachelet.

Der Konflikt in Tigray ist nicht der erste Anlass für eine Internetsperre in Äthiopien. Nach Angaben von NetBlocks war das Internet bereits im Jahr 2019 nach einem Putschversuch in der Region Amhara landesweit abgeschaltet worden. Auch im Juni 2020 wurde es landesweit für mehrere Wochen blockiert. Vorausgegangen war damals der Mord an dem äthiopischen Musiker und Aktivisten Hachalu Hundessa, in dessen Folge es in Äthiopien zu Protesten gekommen war. (js)