Moskau will Gesichtserkennung ausbauen
Russische Behörden bauen den Einsatz von Gesichtserkennung im öffentlichen Raum weiter aus – insbesondere in der Hauptstadt Moskau. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) kritisiert, der Einsatz der Technik sei in Russland nicht reguliert und es fehle an Vorschriften für den Datenschutz. Die Erkennungstechnik habe schwerwiegende Auswirkungen auf Menschen- und Freiheitsrechte. Die Strafverfolgungsbehörden hätten Gesichtserkennung bereits eingesetzt, um regierungskritische Demonstranten zu identifizieren.
Ende August hatte die Stadt Moskau eine Ausschreibung gestartet, um das Gesichtserkennungssystem in der Stadt aufzurüsten. HRW berichtet, mit der geplanten Erweiterung könnten die Strafverfolgungsbehörden automatisiert die Bewegungen von Verdächtigen ebenso nachzuvollziehen wie von Personen, die sich regelmäßig mit diesen treffen. Auch Personen, die wiederholt an bestimmten Orten auftauchen, ließen sich so automatisiert identifizieren. Zusätzlich wollen die Behörden in Zukunft beispielsweise nach Geschlecht, Alter oder Ethnie suchen können. Gesichtserkennung kommt in der Stadt mit rund 12 Millionen Einwohnern bereits seit dem Jahr 2017 zum Einsatz.
Zudem soll in Moskau zukünftig auch eine sogenannte Silhouettenerkennung verwendet werden: Auf Grundlage von Größe, Kleidung und anderen Faktoren soll diese Technik eine angeblich einzigartige Silhouette von Personen erstellen, wenn das Gesicht nicht sichtbar ist. Auch damit sollen sich Menschen im öffentlichen Raum identifizieren lassen, wenn zuvor auch ihr Gesicht erfasst wurde.
Umfassendes Kameranetz
Die Moskauer IT-Behörde argumentiert für den Ausbau der Gesichtserkennung mit der Sicherheit von Bürgerinnen und Bürgern. Doch Hugh Williamson, Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch, forderte die Behörden auf, “ihren unverantwortlichen und unregulierten” Einsatz von Gesichtserkennung einzustellen. Der Schutz der Privatsphäre wiege schwerer als “jeder angebliche Nutzen für die öffentliche Sicherheit”. Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit müssten vor dem Missbrauch der Technik geschützt werden.
Schon heute gebe es nach Angaben der Stadt ein Netz von 125.000 Kameras mit Gesichtserkennung in Moskau. Deren Videoaufnahmen würden von einem Algorithmus ausgewertet, um Menschen zu erkennen. Insgesamt soll es in der russischen Metropole sogar rund 200.000 Überwachungskameras geben. Auch in anderen Regionen Russlands seien bereits mehr als 5000 Kameras mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet.
Die Technik wird in Moskau außer zur Strafverfolgung beispielsweise auch in der U-Bahn verwendet, um per Gesichtserkennung zu bezahlen. Ab Oktober soll das System an allen U-Bahn-Stationen verfügbar sein. Außerdem hatte das Bildungsministerium im vergangenen Jahr angekündigt, die Technik landesweit in 43.000 Schulen zu installieren.
Fehlende Regulierung
Obwohl die Behörden mit der Überwachungstechnik massenhaft Daten sammelten, reguliere russisches Recht bisher nur den Einsatz der Technik bei Banken, kritisiert HRW. Zwar seien persönliche Daten grundsätzlich geschützt. Doch die IT-Behörde argumentiert, die Kameras sammelten nur anonyme Daten. Erst wenn die Software eine Übereinstimmung mit einer gesuchten Person feststelle, würden die Aufnahmen zur Identifikation an die Ermittlungsbehörden weitergeleitet. Da die IT-Behörde nicht selbst über personenbezogene Daten verfüge, ist sie der Ansicht, dass die von den Kameras erfassten Bilder nicht unter die Datenschutzbestimmungen fallen. HRW kritisiert außerdem, es lasse sich nicht unabhängig überprüfen, wie die Strafverfolgungsbehörden die Daten verarbeiten.
Zudem habe das russische Parlament im April 2020 ein Gesetz “über das Experimentieren mit künstlicher Intelligenz” verabschiedet. Dies erlaube den Einsatz verschiedener Techniken, ohne dass bestehende Datenschutzbestimmungen gelten. “Das Gesetz über Experimente mit künstlicher Intelligenz hat den Moskauer Behörden das Gefühl gegeben, sie könnten tun was sie wollen”, kritisierte Kirill Koroteyev von Agora, einem russischen Netzwerk für Menschenrechtsanwälte.
Die von den Moskauer Kameras gesammelten biometrischen Daten werden bei der IT-Behörde gespeichert. HRW berichtet, die Regierung plane, den Einsatz von Gesichtserkennung landesweit auszuweiten und erwäge außerdem, die so erfassten Daten zentral zu speichern. IT-Sicherheitsexperten warnen regelmäßig vor der zentralen Speicherung von persönlichen Daten, da von einem Datenleck eine Vielzahl von Personen betroffen wäre.
Zugriff auf staatliche Gesichtserkennung über Telegram
Tatsächlich hatte die russische Datenschutzorganisation Roskomsvoboda bereits im November 2020 ein Datenleck bei der Moskauer Überwachung dokumentiert: Über den Messenger-Dienst Telegram wurde gegen Geld Zugang zu dem System angeboten. Wer ein Foto einschickte und umgerechnet etwa 175 Euro zahlte, erhielt eine Liste von Adressen, an denen die Überwachungssysteme die Person auf dem Bild erfasst hatten. Eine Roskomsvoboda-Aktivistin hatte testweise ihr eigenes Bild eingereicht und erhielt anschließend die Orte, an denen sie aufgezeichnet worden war. Anhand wiederkehrender Orte ließ sich auch ihr Wohnort nachvollziehen. Hinter den Angeboten sollen zwei Polizisten gesteckt haben, gegen die Strafverfahren eingeleitet wurden.
Roskomsvoboda hatte gegen die Gesichtserkennung geklagt. Die Organisation wollte erreichen, dass das System abgeschaltet wird, bis es eine rechtliche Grundlage gibt. Im Dezember 2020 wurde die Klage abgewiesen. In der Verhandlung hatten die Anwälte von Roskomsvoboda auch darauf hingewiesen, dass die Kameraaufnahmen für maximal fünf Tage gespeichert werden dürfen – die Daten, die die Aktivistin erhalten hatte, waren jedoch teilweise einen Monat alt.
Auch gibt es Berichte über Fehlerkennungen: Im Oktober 2020 hatte die Polizei beispielsweise einen Mann in der Moskauer U-Bahn verhaftet, nachdem die Gesichtserkennung eine Übereinstimmung mit einer gesuchten Person gemeldet hatte. Obwohl die Polizei den Fehler erkannte, wurde der Betroffene durchsucht und es wurden seine Fingerabdrücke genommen.
Kritiker haben wiederholt vor der Unzuverlässigkeit von Gesichtserkennungssystemen gewarnt: So haben Studien beispielsweise gezeigt, dass sie Menschen mit dunkler Hautfarbe schlechter erkennen. Außerdem werden Frauen schlechter erkannt als Männer.
“Repressives Potenzial”
Kritiker warnen zudem vor sogenannten “Chilling-Effekten”: Menschen könnten aus Angst vor der allgegenwärtigen Überwachung ihr Verhalten im Alltag ändern – und zum Beispiel nicht mehr an Demonstrationen teilnehmen oder frei ihre Meinung äußern.
In Moskau haben die Behörden die Technik bereits bei Demonstrationen für den inhaftierten Kremlkritiker Alexey Navalny verwendet. HRW berichtet, im Januar seien Dutzende Demonstrierende durch Gesichtserkennung identifiziert und wegen der Teilnahme an “nicht genehmigten Protesten” verhaftet worden. Auch im April hätten die Behörden so friedlich Demonstrierende identifiziert.
Hugh Williamson von HRW kritisierte, diese Fälle verdeutlichten das “repressive Potenzial dieser Technologie”. Die Regierung müsse die Gesichtserkennung im öffentlichen Raum stoppen.
Angesichts der Risiken fordern Bürgerrechtler weltweit mittlerweile ein Verbot von biometrischer Massenüberwachung. (js)