Amazon überwacht seine Fahrer per App
Der Versandhändler Amazon überwacht das Fahrverhalten seiner Kurierfahrer mit einer Smartphone-App namens Mentor. Fahrer müssen sich das Programm installieren, das ihr Fahrverhalten dauerhaft registriert und jeden Tag mit einer Punktzahl bewertet.
Die App ist für Fahrer obligatorisch, die für Amazon im Rahmen des Programms “delivery service partner” (DSP) arbeiten, berichtet der US-Nachrichtensender CNBC. Betroffen seien die Angestellten von 1300 Lieferunternehmen in fünf Ländern. Die App kommt auch in Deutschland zum Einsatz und es existiert auch ein deutschsprachiges Service-Portal. Das DSP-Programm existiert seit 2018. Die App soll bereits seit mehreren Jahren im Einsatz sein – wie lange genau, ist jedoch unklar.
Orwellsches Scoring
Amazon will mit der Überwachung dabei helfen, Unfälle zu vermeiden. Mehrere Kuriere, die mit CNBC gesprochen haben, bezeichneten die App jedoch als invasiv und äußerten, dass Fehler in der App zu unfairen Disziplinarmaßnahmen ihrer Vorgesetzten führen.
Die Fahrer müssen sich zu Schichtbeginn auf einem Mobilgerät in die App einloggen – und diese bis zum Ende des Arbeitstages laufen lassen. Laut des Leitfadens für die App, erfasst Mentor folgende Daten: Beschleunigung, Bremsen, Kurvenfahrt, Geschwindigkeitsübertretung, Rückwärtsfahrt (“Eines der gefährlichsten Fahrmanöver”), Motorleerlauf und Ablenkung durch Nutzung des Mobilgeräts. In den Amazon-eigenen Lieferwagen erfasst die App zusätzlich, ob der Sicherheitsgurt geschlossen ist. Laut CNBC führe das oftmals dazu, dass die Fahrer den Sicherheitsgurt hinter sich schließen und unangeschnallt fahren.
Aus den erhobenen Daten errechnet Mentor einen “Score” für den Fahrer, der von 850 Punkten (“Great”) bis 100 reicht. Fahrer mit einer Punktwertung von 499 oder niedriger bewertet die App als “Risky” – riskant. Wie die Punktwertung genau zustande kommt, ist nicht transparent. Fahrer berichten allerdings, dass einige Übertretungen zu höheren Abwertungen führen als andere.
Ob das jeweilige Fahrmanöver tatsächlich die Sicherheit bedroht hat oder im Rahmen der Verkehrssicherheit nötig war – beispielsweise wegen des Fehlverhaltens anderer Verkehrsteilnehmer -, wird nicht überprüft.
Gegenüber CNBC äußerten betroffene Fahrer ihren Frust über die Überwachungs-App. So berichtet ein mittlerweile entlassener Fahrer, Mentor habe ihn abgewertet, weil er während seiner Fahrt angerufen wurde. Den Anruf habe er gar nicht entgegengenommen. Dennoch wertete die App die Situation als Telefonat. “Ich hatte keine Kontrolle darüber”, moniert der Fahrer aus Colorado.
Eine weitere Fahrerin aus den USA berichtet, dass Mentor auf ihrem mobilen Paket-Scanner lief. Während ihrer Liefertouren musste sie das Gerät vielfach in die Hand nehmen, um Eingaben zu machen. Die Überwachungs-App interpretierte diese Bewegung jedes Mal als zu harsches Fahrmanöver und senkte die Fahrerbewertung.
Nachdem ihre Vorgesetzten sie auf ihre schlechte Bewertung angesprochen hatten, erhielt sie ein separates Gerät für die Mentor-App. Dieses verstaute sie unangetastet im Handschuhfach und die Bewertungen normalisierten sich.
App ausgetrickst
Wegen des fehlerhaften, überempfindlichen Verhaltens von Mentor tauschen Fahrer in Foren und auf Facebook Tipps aus, wie man einer Falschbewertung entgegenwirkt. Die Betroffenen empfehlen Praktiken, wie das Gerät mit der App in einen Pullover einzuwickeln und dann im Handschuhfach zu verstauen. Andere haben sich extra ein Zweitgerät angeschafft, das nur dazu dient, die App laufen zu lassen. Dieses lassen sie während der Arbeitszeit unberührt im Lieferwagen liegen, damit es zu keinen Bewegungs-Fehlinterpretationen kommt. YouTube-Videos fassen die Ideen sogar in Tutorials zusammen.
Falsche Interpretationen können betroffene Fahrer innerhalb der App zwar beanstanden. Ein Fahrer aus Ohio erklärte gegenüber CNBC aber, dass dies ein erfolgloses Unterfangen sei: “Nachdem man es [die Fahrerbewertung] angefochten hat, schicken sie einem eine E-Mail zurück und sagen: ‘Es tut uns leid’, und das war es.”
Existenzen auf dem Spiel
Für die Beschäftigten ist das frustrierend. Denn das Urteil von Mentor kann großen Einfluss auf sie und ihre arbeitgebenden Lieferunternehmen nehmen. Teile der App sind laut CNBC darauf ausgelegt, Wettbewerb zwischen den Mitarbeitern zu erzeugen. So vergleicht Mentor die einzelnen Fahrerbewertungen eines Teams in einem “Dashboard” miteinander. Die Angestellten haben also ständig vor Augen, wie gut oder schlecht sie im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen abschneiden.
Anhand dieser Werte vergleicht Amazon auch die Unternehmen im DSP-Programm. Die Lieferfirmen werden dabei in Kategorien von “Schlecht” über “Gut” und “Fantastisch” bis hin zu “Fantastisch+” eingeteilt. Im schlimmsten Fall könne eine Bewertung laut CNBC zur Vertragskündigung seitens Amazon führen. Als Vorstufe solcher Kündigungen verweigert der Versandhändler schlecht bewerteten Firmen den Zugriff auf bestimmte Funktionen des DSP-Programms: So können sich die Unternehmen beispielsweise keine optimierten Routen mehr für ihre Lieferungen berechnen lassen.
Das alles findet innerhalb einer Branche statt, die mit niedrigen Löhnen, unter hohem Zeitdruck und prekären Arbeitsbedingungen arbeitet. “Das Wissen, dass Sie unter ständiger Überwachung stehen und dass eine App oder ein Algorithmus eine Entscheidung treffen kann, die sich auf Ihr Leben auswirkt oder Ihre Fähigkeit, Essen für ihre Kinder auf den Tisch zu stellen, ist meiner Meinung nach zutiefst ungerecht”, sagt Evan Greer, stellvertretender Direktor der Digital Rights Group Fight for the Future gegenüber CNBC. Es sei unglaublich dystopisch.
Mentor fordert weitreichende Zugriffsrechte
Die verschiedenen Varianten der Mentor-App lassen sich frei in den App Stores von Google und Apple herunterladen. Für den Zugang braucht man aber Log-In-Daten von einem Vertragspartner. Entwickelt wird die App von der britischen Firma eDriving. Als weitere Kunden werden unter anderem Coca Cola, Merck, Nestle, Siemens und Toyota genannt.
Sowohl im Google Playstore als auch im Apple App Store ist die Software mit knapp eineinhalb Sternen außergewöhnlich schlecht bewertet. Nutzer beschweren sich unter anderem über unpräzise Messungen und unsinnige Bewertungen ihres Fahrverhaltens. So kritisiert ein Nutzer, dass harte Bremsmanöver generell zu einer negativen Bewertung führen. Eine harte Bremsung sei aber manchmal nötig, weil beispielsweise Fußgänger auf die Straße springen. Würden die Fahrer am Ende des Tages eine gute Bewertung erhalten wollen, müssten sie die Passanten überfahren. Auch kritisieren Nutzer die generalisierte Negativ-Bewertung von hohen Motordrehzahlen. Vielerorts seien diese nötig, um Steigungen in einem niedrigen Gang zu bewältigen – und hätten nichts damit zu tun, dass die Fahrer zu schnell fahren.
Unter Android und iOS fordert Mentor mehrere Zugriffsberechtigungen an; unter anderem kann die App den Standort, den Speicherinhalt und die WLAN-Verbindungen auslesen. Läuft eine aktuelle Android- oder iOS-Version auf dem verwendeten Mobilgerät, fragt das Betriebssystem bei der Installation, ob Mentor den Standort ununterbrochen aus dem Hintergrund abfragen darf oder nur, wenn die App geöffnet ist. Obwohl das für die Funktionsweise nicht nötig ist, empfehlen die Mentor-Entwickler, den Standort dauerhaft zu teilen. Das ist dann problematisch, wenn die App auf einem privaten Gerät installiert ist. Denn dann erfolgt die Standorterfassung auch außerhalb der Arbeitszeit. Laut CNBC-Bericht stellen einige Lieferunternehmen den Mitarbeitern separate Geräte zur Verfügung, bei anderen Arbeitgebern müssen die Mitarbeiter ihre Privatgeräte nutzen.
Amazon bleibt bei Mentor
CNBC konfrontierte Amazon mit der Kritik an Mentor. Laut dem Sender stand der Konzern für eine Stellungnahme aber nicht zur Verfügung. Auch war Amazon nicht bereit, zu erklären, wie die Bewertungen innerhalb der App zustande kommen. Stattdessen erhielt der Sender nur eine pauschale Antwort: “Sicherheit hat bei Amazon oberste Priorität. […] wir haben zig Millionen Dollar in Sicherheitsmechanismen in unserem Netzwerk investiert und teilen den Fahrern regelmäßig bewährte Sicherheitsmethoden mit.”
Auch das Unternehmen, das die App entwickelt, war zu keinem Kommentar bereit. (hcz)