Amnesty-Bericht: Menschenrechte leiden in der Coronakrise
Im Jahr 2020 hat die Coronakrise strukturelle Missstände und Ungleichheiten beim Zugang zu Menschenrechten aufgezeigt und diese noch verschärft. Das berichtet die Organisation Amnesty International in ihrem am Mittwoch veröffentlichten Jahresbericht, der die Menschenrechtslage in 149 Ländern untersucht. Viele Regierungen haben es demnach versäumt, besonders verletzliche Gruppen ausreichend zu schützen. Zunehmend wurden auch die Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit eingeschränkt.
“Zahlreiche Staaten missbrauchten die Gesundheitskrise um weiter rechtsstaatliche Prinzipien aufzulösen und Rechte einzuschränken oder nahmen billigend den Tod von Menschen aus Risikogruppen oder dem Gesundheitssektor in Kauf”, sagte Markus N. Beeko, Generalsekretär von Amnesty International in Deutschland.
Während der Pandemie hätten etwa Beschäftigte im Gesundheitswesen oftmals ohne grundlegende Schutzvorkehrungen arbeiten müssen: So starben im vergangenen Jahr weltweit mindestens 17.000 Menschen in diesem Sektor, ein Großteil in Südamerika. Auch habe Amnesty International in mehr als einem Viertel der untersuchten Länder staatliche Repressionen gegen medizinisches Personal dokumentiert wie beispielsweise Kündigungen, wenn sich Angestellte über fehlende Schutzausrüstung beschwerten.
Misshandlungen an den EU-Außengrenzen
Die Situation von Geflüchteten und Migranten habe sich während der Pandemie weiter verschlechtert: Wegen Grenzschließungen sind Menschen häufig ohne Grundversorgung gestrandet. Viele seien in Lagern ohne sauberes Wasser oder wichtige Hygieneartikel festgesetzt worden. Zusätzlich kam es zu illegalen Push-Backs und Misshandlungen – wie an den EU-Außengrenzen in Griechenland und Kroatien.
Amnesty International berichtet weiter, dass es in vielen Regionen einen erheblichen Anstieg von geschlechtsspezifischer und häuslicher Gewalt gab: Für viele bedrohte Frauen sowie lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche (LGBTI) Menschen seien Hilfsangebote durch die Pandemie nicht mehr verfügbar gewesen. In mindestens 24 Ländern dokumentierte die Organisation darüber hinaus “glaubwürdige Vorwürfe”, dass Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität festgenommen wurden. So wurden in Polen im August beispielsweise 48 LGBTI-Aktivisten bei einer friedlichen Demonstration verhaftet.
Im Zusammenhang mit der Pandemie prangert die Organisation auch die Impfstoffverteilung an: So hatten Indien und Südafrika die Aufhebung des Patentschutzes für Impfstoffe gefordert, damit weitere Firmen sie produzieren können. Mehr als 100 Länder hatten den entsprechenden Antrag bei der Welthandelsorganisation unterstützt. Die USA, Großbritannien, die Schweiz und die EU blockierten diesen Vorschlag jedoch.
Die Pandemie habe schonungslos die Schwächen bei der internationalen Zusammenarbeit offenbart, sagte Beeko. Die Staaten müssten nun gemeinsam Aufgaben wie die Impfstoffverteilung angehen: “Die Covid-19-Pandemie ist ein Lackmustest, inwieweit die Staatengemeinschaft in der Lage ist, verantwortlich und aktiv mit globalen Herausforderungen umzugehen – ob Pandemie, Klimakrise oder menschenrechtskonforme Digitalisierung.”
Zunehmende staatliche Gewalt
Amnesty International kritisiert auch, dass Staaten bei gesellschaftlichen Konflikten zunehmend mit Gewalt vorgingen. Viele Länder hätten Sicherheitsgesetze verschärft und Minderheiten diskriminiert. Teilweise wurden sogar Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen. Auch Menschenrechtler wurden im vergangenen Jahr verfolgt, schikaniert und getötet.
So haben beispielsweise die Regierungen in Myanmar, Äthiopien und Belarus systematisch exzessive und teils tödliche Gewalt gegen friedliche Demonstranten angewandt. Auch in Brasilien sei die Gewalt eskaliert: Zwischen Januar und Juni 2020 wurden mindestens 3.181 Menschen von der Polizei getötet – im Durchschnitt 17 Menschen pro Tag.
In Golfstaaten wie Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten werde die Meinungsfreiheit beschnitten, indem Menschen strafrechtlich verfolgt werden, wenn sie die Corona-Maßnahmen ihrer Regierungen im Internet kritisieren. In Ungarn drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis für die “Verbreitung und Weitergabe falscher Informationen” zur Corona-Pandemie und den Regierungsmaßnahmen.
Probleme in Deutschland
Bei der Menschenrechtssituation in Deutschland sieht Amnesty ebenfalls Nachholbedarf: So bemängelt die Organisation, dass es weder auf Landes- noch auf Bundesebene eine unabhängige Beschwerdestelle für diskriminierendes und rechtswidriges Verhalten der Polizei gibt. Auch Datenabfragen bei der Polizei im Zusammenhang mit rechten Drohschreiben erwähnt die Organisation in ihrem Bericht. Die Kontrolle der Sicherheitsbehörden müsse gestärkt werden.
“Der deutsche Rechtsstaat weist ausgerechnet dort Lücken auf, wo es um Transparenz und Kontrolle der Polizei geht – wichtige internationale Menschenrechtsstandards werden hier nicht eingehalten”, sagte Maria Scharlau, Polizeiexpertin bei Amnesty International.
Der Bericht betrachtet aber auch positive Entwicklungen. Die Verurteilung eines früheren Mitarbeiters des syrischen Geheimdienstes durch ein deutsches Gericht etwa sende ein Signal: “Die internationale Gemeinschaft zieht diejenigen zur Verantwortung, die sich wegen schwerster Menschenrechtsverbrechen strafbar gemacht haben. Kein Folterverantwortlicher soll sich zukünftig sicher vor Strafverfolgung fühlen”, sagte Beeko.
Zudem hat der Sudan die weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe gestellt. In Ruanda wurden 36 wegen Abtreibung verurteilte Frauen begnadigt. Auch die Entkriminalisierung von Abtreibungen in Argentinien, Nordirland und Südkorea sei ein wichtiger Schritt. (js)