Brasilien: Online-Lernangebote spionieren Schüler aus
Weil Schüler während der COVID-Pandemie lange nicht zur Schule gehen konnten, haben sich in Brasilien verschiedene Online-Lernangebote etabliert – teils mit staatlicher Unterstützung. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hat die Seiten untersucht und gravierende Datenschutzmängel festgestellt.
Die sieben untersuchten Internetseiten überwachen die Online-Aktivitäten der Kinder mithilfe sogenannter Tracker und Cookies, sammeln personenbezogene Daten und teilen diese mit externen Werbeunternehmen wie Google und Facebook, berichtete HRW am Montag. Mithilfe der eingesetzten Technik können die Online-Aktivitäten der Kinder auch über die Lernplattformen hinaus verfolgt werden.
Einige der Seiten setzen zudem sogenanntes Session Recording ein. Dabei werden Aktivitäten der Nutzer wie Cursorbewegungen und Klicks aufgezeichnet. Die Plattformen leiten die Daten auch an Dritte weiter. HRW bezeichnet die Technik als das “digitale Äquivalent zur Videoüberwachung”. Selbst Keylogging kommt laut der Menschenrechtsorganisation zum Einsatz, hierbei werden alle Texteingaben der Kinder direkt auf ihren Geräten erfasst. Das betrifft auch persönliche Daten wie Namen, Telefonnummern oder Passwörter.
“Diese Websites beobachteten die Kinder nicht nur in ihren Online-Klassenzimmern, sondern verfolgten sie im Internet, außerhalb der Schulzeit und bis tief in ihr Privatleben hinein”, warnt HRW.
Zu den beanstandeten Seiten zählen auch zwei, die direkt von staatlichen Bildungssekretariaten angeboten werden. Die weiteren fünf Plattformen privater Anbieter wurden von staatlichen Stellen für die Nutzung durch Kinder während der Covid-19-Pandemie genehmigt.
Obwohl HRW bereits vor Monaten sowohl die Betreiber als auch die zuständigen Behörden auf die Probleme hingewiesen hat, habe sich größtenteils nichts an dem Vorgehen der Seiten geändert, kritisiert die Organisation. Einige setzen inzwischen sogar noch mehr Tracker ein. Zudem würden die Behörden nicht über das Verhalten der Webseiten informieren, obwohl sie diese autorisiert haben. “Kinder und ihre Familien in Brasilien werden über die Datenüberwachung von Kindern in Online-Klassenzimmern im Dunkeln gehalten”, kritisierte Hye Jung Han, Forscherin für Kinderrechte und Technologie bei HRW. “Statt Kinder zu schützen, haben die Landesregierungen es absichtlich jedem ermöglicht, sie zu überwachen und ihre persönlichen Daten online zu sammeln.”
Die Menschenrechtsorganisation fordert die brasilianische Regierung auf, das Datenschutzgesetz zu reformieren und neue Sicherheitsvorkehrungen zum Schutz von Kindern im Internet hinzuzufügen.
Behörden als schlechtes Vorbild
HRW hatte erstmalig im Mai 2022 über die Datenschutzprobleme von Bildungswebseiten berichtet. Daraufhin wurde eines der beanstandeten Online-Lernangebote in Brasilien vom Netz genommen.
Eine weitere Analyse der brasilianischen Seiten erfolgte im November 2022. In einer erneuten Überprüfung im Januar 2023 stellte HRW weiterhin die gleichen Datenschutzverletzungen fest. Human Rights Watch berichtet, die Ergebnisse seien den Betreibern und den beiden zuständigen staatlichen Bildungssekretariaten mitgeteilt worden und die Organisation habe ihnen mehrfach vor der Veröffentlichung die Möglichkeit gegeben, zu reagieren.
In Reaktion auf die neue Recherche habe lediglich das Bildungssekretariat von Mias Gerais 2023 alle Werbe-Tracker von seiner eigenen Blidungswebseite entfernt – nachdem es erst behauptet hatte, die Seite sammle keine Nutzerdaten. Die Tracker hatten die Daten der Kinder zuvor über zwei Jahre lang an Drittfirmen weitergeleitet. Nach Ansicht von HRW zeigt dieses Beispiel, dass Bildungsangebote für Kinder auch funktionieren, ohne ihre Daten abzugreifen und ihre Privatsphäre zu verletzen.
Das Bildungssekretariat von São Paulo habe hingegen bis heute nicht auf die Anfragen von HRW reagiert. Die Behörde betreibt seine eigene Lernplattform weiterhin mit vier aktiven Werbetrackern, die Nutzerdaten an Drittfirmen schicken. Zudem befürwortet die Behörde weiterhin die Verwendung von weiteren Bildungsseiten, die personenbezogene Daten von Kindern sammeln und an Werbeunternehmen weitergeben.
Intensive Überwachung
Zu diesen nicht-staatlichen Seiten zählt beispielsweise Descomplica. Die Plattform besitzt staatliche Genehmigungen und richtet sich an Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Bis Dezember 2020 war das Angebot kostenlos.
HRW hatte im Mai 2022 festgestellt, dass Descomplica die Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer an 20 Unternehmen sendet, die auf personalisierte Werbung spezialisiert sind. Hierfür waren 30 Werbetracker und 19 Cookies von Drittanbietern im Einsatz. Dann baute Descomplica die Überwachung sogar noch weiter aus: Im Januar 2023 kamen schon 37 Werbetracker und 39 Cookies von Drittfirmen zum Einsatz, die Daten an 26 verschiedene Unternehmen sendeten – unter anderem Google und Facebook. Auf der Webseite kam zudem sogenanntes Session Recording zum Einsatz.
Descomplica hat bis heute nicht auf Anfragen von HRW reagiert, wie auch die meisten anderen Unternehmen nicht. Zwei Plattformen, MangaHigh und Stoodi, hätten zwar noch die kompletten Analysen angefordert, im Anschluss aber nicht mehr geantwortet.
Weltweites Problem
HRW hatte bereits im Mai 2022 die Ergebnisse einer großangelegte Untersuchung veröffentlicht, in der sie 164 Online-Lernplattformen aus 49 Ländern analysiert hat.
Die Organisation stellte fest, dass 146 (89 Prozent) der untersuchten Produkte die Rechte von Kindern gefährdeten oder verletzten, weil sie die Aktivitäten der Kinder überwachten oder zumindest die Fähigkeit dazu hatten. In den meisten Fällen sei das unbemerkt und ohne die Zustimmung von Kindern und Eltern möglich gewesen. Die bemängelten Produkte sammelten beispielsweise Daten darüber, wofür ein Kind sich im Internet interessiert, wer es ist, wo es sich befindet, was das Kind im Klassenzimmer tut, wer zu seiner Familie und dem Freundeskreis gehört und welche Geräte genutzt werden.
Die meisten der Lernangebote sendeten die Daten der Kinder an Werbeunternehmen oder gewährten ihnen Zugriff darauf, insgesamt seien Daten an 196 Unternehmen ausgeleitet worden. Diese nutzten die Daten dann teils, um personalisierte Werbung außerhalb der Bildungsprogramme zu schalten, beispielsweise auf Webseiten und in Apps. Werbeunternehmen könnten diese Daten zusammenfügen und analysieren, um die persönlichen Eigenschaften und Interessen eines Kindes zu bestimmen und vorherzusagen, was ein Kind als Nächstes tun wird und wie es beeinflusst werden könnte, schrieben die Experten.
Die personalisierten Anzeigen, die auf Basis der gesammelten Daten geschaltet wurden, verzerrten nicht nur das Online-Erlebnis der Kinder, sondern könnten auch ihre Meinungen und Überzeugungen beeinflussen. Dabei spreche die Werbung die Kinder an einem Zeitpunkt in ihrem Leben an, an dem sie “besonders anfällig für manipulative Eingriffe” seien.
In der Liste der untersuchten Produkte fanden sich auch 14, die von deutschen Landesregierungen empfohlen wurden – vier von Baden-Württemberg, zehn von Bayern. Auch bei vielen der hierzulande empfohlenen Produkte stellte Human Rights Watch eingebaute Werbe-Tracker oder das Sammeln persönlicher Daten fest.
Gesetzesreform gefordert
HRW weist darauf hin, dass Brasiliens Verfassung das Recht auf Privatsphäre schützt – und das Land auch die UN-Konvention über die Rechte der Kinder ratifiziert habe. Diese schütze auch die Privatsphäre von Kindern in besonderem Maße.
Dennoch böten das brasilianische Datenschutzgesetz – das Lei Geral de Proteção de Dados Pessoais sowie das Allgemeine Gesetz zum Schutz personenbezogener Daten – keinen ausreichenden Schutz für Kinder. Denn beide Gesetze verböten es nicht ausdrücklich, Informationen von Kindern zu nutzen oder verlangten ein besonders hohes Schutzniveau für Kinder.
HRW fordert den Gesetzgeber dazu auf, mit einer umfassenden Datenschutzreform Kinder besser zu schützen. Die Organisation plädiert für Verbote von personalisierter Werbung und der Verwendung von Tracking-Techniken für Kinder.
Zudem fordert HRW: “Die brasilianische Datenschutzbehörde sollte diese Angriffe auf die Privatsphäre von Kindern stoppen.” Von Unternehmen und Landesregierungen gesammelte Daten von Kindern müssten gelöscht werden. Sie dürften für keinen anderen Zweck eingesetzt werden als der Bereitstellung von Bildung.
“Kinder sollten nicht gezwungen werden, ihre Privatsphäre aufzugeben, um zu lernen”, sagte HRW-Forscherin Han. (hcz)