Buchkritik: Factfulness - Bleibe bei den Fakten

Das Buch Factfulness von Hans Rosling
Factfulness: Ein Buch um nachts unbesorgter schlafen zu können.

Es steht schlimm um unsere Welt: Armut, Hunger und Unsicherheit breiten sich schneller aus als jedes Virus. Die Corona-Pandemie ist da nur der Brandbeschleuniger, der die Menschheit umso schneller ins unvermeidbare Elend stürzt.

Stimmt nicht! Statt zu einem immer hoffnungsloseren Ort zu werden, ist unsere Gesellschaft konstant auf einem Weg der Besserung für alle – das behauptet zumindest der Mediziner, Entwicklungshelfer und Mitbegründer von Ärzte ohne Grenzen Hans Rosling in seinem Buch “Factfulness”. Dabei vertritt er seine These nicht mit krampfhaftem Optimismus oder Schönmalerei, sondern mit simplen wissenschaftlichen Fakten und untermauert alles mit belegbaren Zahlen. Factfulness will den Leser nicht dazu bringen, die Welt zwangsweise positiv zu betrachten, sondern realistisch und losgelöst von Pessimismus, Fatalismus und Angst.

Zwanghafte Pessimisten

Ob man als Leser selbst zu den Schwarzsehern gehört, kann man gleich zu Beginn des Buches überprüfen. Dort stellt der Autor 13 Multiple-Choice-Fragen zur aktuellen Situation der Menschheit.

Hier drei Beispiele zum Selbsttesten:

Wo lebt die Mehrheit der heutigen Weltbevölkerung?
a) In Ländern mit geringem Pro-Kopf-Einkommen
b) In Ländern mit mittlerem Pro-Kopf-Einkommen
c) In Ländern mit hohem Pro-Kopf-Einkommen

Wie hat sich in den letzten 20 Jahren der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung entwickelt?
a) Nahezu verdoppelt
b) Nicht oder nur unwesentlich verändert
c) Deutlich mehr als halbiert

Wie hat sich die Zahl der Todesopfer durch Naturkatastrophen in den letzten 100 Jahren entwickelt?
a) Sie hat sich mehr als verdoppelt.
b) Sie ist etwa gleich geblieben.
c) Sie hat sich mehr als halbiert.

Die richtigen Antworten: b, c, c

Falls Sie im Test auch nur eine korrekte Antwort gegeben haben, haben Sie bereits einen realistischeren Blick auf die Welt, als der Großteil der Menschheit. Wenn Sie eher zu den pessimistischeren Werten tendierten, sind Sie in guter Gesellschaft: Rosling stellte über 12.000 Menschen aus 14 Ländern die gleichen Fragen – unter anderem UN-Politikern und Nobelpreisträgern. Niemand gab durchweg die richtigen Antworten und nur ein einziger Proband (aus Schweden) beantwortete immerhin 12 von 13 Fragen korrekt und entschied sich für die positivsten Antworten. Im Schnitt waren nur zwei Antworten korrekt und 15 Prozent der Befragten erzielten keinen einzigen Treffer.

Als Kontrollgruppe diente Rosling eine fiktive Gruppe von Schimpansen. Diese beantworteten die Fragen – mangels Verständnis – vollkommen zufällig und wiesen somit eine durchschnittliche Trefferquote von 33 Prozent auf. Die menschlichen Probanden erreichten hingegen nicht ansatzweise ein solches Ergebnis und rieten also nicht durch reinen Zufall falsch. Rosling kommt deswegen zu der Annahme, dass es eine Systematik hinter dem pessimistischen Antwortschema der Menschen gibt.

Die Instinkte täuschen

Fehlendes oder falsches Wissen schließt Rosling als Ursache für den Pessimismus der Menschen aus, da selbst erfahrene UN-Mitarbeiter und einschlägige Nobelpreisträger die Fragen nicht korrekt beantworten konnten. “Auch Menschen mit Zugang zu den neuesten Informationen sehen die Welt falsch. Und ich bin überzeugt, es liegt nicht an den böswilligen Medien, an Propaganda und Fake News, noch nicht einmal an falschen oder ‘alternativen’ Fakten.”, so der Autor.

Nach Roslings Erkenntnissen hat die verquere Weltsicht ihren Ursprung in “Millionen Jahren Evolution” des Gehirns: “Wir interessieren uns für Klatsch und dramatische Geschichten, die einst die einzige Quelle von Nachrichten und nützlichen Informationen waren.” Die daraus entwickelten Instinkte waren früher wichtig, um schnelle Einschätzungen abzugeben und Entscheidungen zu treffen. “Unsere schnell arbeitenden Gehirne und unser Verlangen nach Drama – unsere dramatischen Instinkte – [bewirken] falsche Vorstellungen und eine überdramatisierte Weltsicht.”

An diesem Punkt taucht der Autor aber nicht in detaillierte evolutionspsychologische Erklärungen ab, sondern lässt seine Theorie mit wenigen Argumenten unterstützt so stehen. Denn Rosling geht es nicht darum, eine differenzierte wissenschaftliche Analyse des Phänomens des dramatisierten Weltbildes zu liefern. Er möchte vielmehr die praktischen Auswirkungen dieses Denkens in unserer Gesellschaft aufzeigen und dem Leser helfen, daraus auszubrechen. “Ich werde Ihnen zeigen, wie sie überdramatisierte Geschichten erkennen können, und ich werde Ihnen einige Denkhilfen an die Hand geben, damit Sie Ihre dramatischen Instinkte besser unter Kontrolle bekommen.”, verspricht Rosling. Er gibt kompakt gefasste Tipps, wie man besser mit schlechten und guten Nachrichten umgeht, wie man tendenziösen Statistiken und Grafiken nicht auf den Leim geht und wie man seine Ängste sachlicher einordnen kann. Die Tipps sind leicht zu merken und sofort umsetzbar.

Die schlechte Welt wird immer besser

Dass es in unserer Gesellschaft viel Bedrückendes gibt, Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, bestreitet der Autor nicht. Er will auch nicht darauf hinaus, dass alles gut sei, wie es ist. Doch strebe die Welt immer weiter in Richtung Gerechtigkeit und Wohlstand.

Es ist der positive Trend, den die Menschen oft nicht wahrnehmen: “In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil der in extremer Armut lebenden Weltbevölkerung mehr als halbiert. Ich sehe darin die wichtigste Veränderung, die sich während meines Lebens auf der Welt vollzogen hat. Aber die Leute wissen es nicht.”, beschreibt Rosling seine Erfahrung.

In Brasilien beispielsweise entfallen 41 Prozent des Gesamteinkommens auf nur zehn Prozent der Bevölkerung – in anderen Ländern kann man ähnliche Statistiken aufstellen. Dieser Fakt sollte alarmierend wirken und dazu führen, dass sich Politik und Gesellschaft dafür einsetzen, dieses Verhältnis zu ändern. Doch die Zahl war noch nie so niedrig: Vor 20 Jahren lag sie noch bei 50 Prozent des Gesamteinkommens. Über einen längeren Zeitraum hinweg lässt sich also bereits eine positive Entwicklung erkennen.

Alles andere als Schwarz und Weiß

Rosling will mit dem Blick auf die positiven Entwicklungen Hoffnung fördern und gezielt die “überdramatisierte Sicht einer geteilten Welt” eindämmen, aus deren Perspektive überall eine gesellschaftliche Kluft herrscht: zwischen arm und reich, sogenannten Industrienationen und Entwicklungsländern oder zwischen Mann und Frau.

Dieses Bild der gespaltenen Weltbevölkerung sei unrealistisch, die Lage der Menschen unterscheide sich mehr in Nuancen und fließenden Übergängen. So bietet Rosling als Alternative für die binäre Einteilung der Welt in Wohlstand und Armut (alias Industrienationen und Entwicklungsländer) ein vierstufiges Modell an, das sich am Tageseinkommen orientiert.

Rosling meint: Das Modell der Einkommensniveaus stellt “eine einfache Möglichkeit dar, Dinge unterschiedlichster Art zu verstehen, vom Terrorismus bis zur Sexualerziehung”. Danach lägen die Ursachen für Probleme wie religiöser Fanatismus oder die Ungleichbehandlung von Frauen nicht ausschließlich in kulturellen Unterschieden oder unveränderlichen Verhaltensweisen der jeweiligen Erdenregion. In vielen Fällen könne man verschiedene Einkommensniveaus als größten und ausschlaggebenden Unterschied feststellen. Rosling ist überzeugt: “Der Hauptfaktor, der den Alltag der Menschen bestimmt, ist nicht die Religion, die Kultur oder das Land, in dem sie leben. Der Hauptfaktor ist das Einkommen.” Sicherlich ist diese Grundannahme kontrovers diskutierbar. Doch selbst, wenn man sich von Rosling nicht vollends überzeugen lässt, verändert diese Theorie im Hinterkopf den Blick auf viele Probleme.

In extremer Armut leben danach nur Menschen, die unter zwei US-Dollar am Tag einnehmen und nur unter großen Strapazen Zugang zu Wasser, Elektrizität und Bildung haben.

Menschen im zweiten Einkommensniveau haben bis zu acht US-Dollar am Tag. Für unsereins, die sich im vierten und höchsten Einkommensniveau befinden, klingen acht US-Dollar immer noch nach Armut. Doch Rosling sieht auf diesem Niveau bereits “den Großteil der menschlichen Bedürfnisse befriedigt”. Die meisten Menschen leben in den beiden mittleren Bereichen und haben somit 2 bis 32 US-Dollar pro Tag zur Verfügung. Sie können sich tägliche, abwechselnde Mahlzeiten, einen Wasseranschluss, Bildung ihrer Kinder und ein Fortbewegungsmittel leisten.

Allein diese und ähnliche mit Zahlen belegte Erkenntnisse sollen dem Leser helfen, zu realistischeren Einschätzungen zu gelangen. Rosling unterscheidet dabei zwischen 10 verschiedenen Instinkten wie den der “Kluft”, der “Negativität” oder der “Schuldzuweisung” und hangelt sich an diesen kapitelweise entlang.

Der Schwarze Peter

Am besten passt wohl das Kapitel “Schuldzuweisung” in unsere Zeit. Die menschlichen Verhaltensweisen und Denkmuster, die Rosling dort beschreibt, lassen sich auch jetzt in der Corona-Krise beobachten. Roslings Theorien erklären beispielsweise, warum sich Donald Trump immer mehr in die Opferrolle begibt und mit Schuldzuweisungen um sich schießt, warum Verrückte Weltverschwörungsmärchen mit bösen Geheimorganisationen verbreiten – und warum Bill Gates statt als Philanthrop als comicartiger Superbösewicht dargestellt wird.

“Irgendjemand muss ja schuld sein.” – das ist kurzum der instinktbedingte Trugschluss in all diesen Fällen. Eine Welt ohne Schuldige ist komplex, unübersichtlich und nur schwer zu verstehen. Ein Buhmann macht alles einfacher, unterteilt die Welt wieder klar in Gut und Böse und wirkt auf den Menschen beruhigend.

Doch das ist nicht die Realität. Rosling erzählt davon, wie er in eine Diskussion mit seinen Studenten geriet. Es ging darum, wer daran schuld sei, dass die Medikamentenhersteller vorzugsweise Produkte für wohlhabende Menschen entwickeln und beispielsweise Malaria-Mittel, die vor allem in armen Regionen benötigt werden, vernachlässigen, weil sie weniger Gewinn abwerfen.

Zunächst machten die Studenten die Manager dafür verantwortlich, doch diese unterstehen dem Willen des Vorstandes – und dieser wiederum achtet auf die Aktionäre. Also standen diese nun am Pranger. Nach Ansicht der Studenten handelte es sich dabei um nicht näher definierte “Reiche”. Rosling erklärte jedoch, dass vor allem Pensionskassen große Anteilseigner von Phamazie-AGs sind – der Grund liegt in den stabilen Aktienkursen und der kontinuierlichen Rendite. Von diesen profitieren viele Rentner. Nach einer sachlichen Analyse wurde die Schuldfrage schwieriger: die Studenten hatten nicht mehr nur raffgierige Börsenspekulanten, sondern auch die Rente der gemütlichen Omi von nebenan vor Augen.

Ein alleiniger Schuldiger ist so gut wie nie zu identifizieren: Schuld an toten Flüchtlingskindern an europäischen Stränden sind nicht allein die Schleuserbanden, sondern auch die europäische Einreisepolitik, die eine konventionelle Einreise beispielsweise per Flugzeug unmöglich macht. Statt Einzelpersonen oder Gruppen benennt Rosling vielmehr die dahinter stehenden Systeme als Problemursache.

Im Jahr 2007 besuchte Rosling das Weltwirtschaftsforum in Davos. Auf dem Podium stand der Umweltminister eines EU-Landes: “Die Vorhersagen zeigen, dass China, Indien und die anderen aufkommenden Volkswirtschaften ihren CO2-Austoß in einem Tempo steigern, das einen gefährlichen Klimawandel bewirken wird. China emittiert jetzt schon mehr CO2 als die USA und Indien mehr als Deutschland.” Ein indischer Amtsträger, der laut Rosling als führender Experte bei der Weltbank und dem internationalen Währungsfond arbeitete, antwortete ihm aus dem Publikum heraus: “Es waren Sie, die reichsten Nationen, die uns alle in diese schwierige Lage gebracht haben. Sie, und nur Sie haben uns an die Schwelle des Klimawandels gebracht. Aber wir vergeben Ihnen […]. Wir sollten niemals jemanden rückblickend verurteilen wegen eines Schadens, dessen er sich nicht bewusst war. Aber von jetzt an zählen wir die CO2-Emissionen pro Kopf.”

Die Anekdote demonstriert, dass eine Pro-Kopf-Angabe in den meisten Fällen sinnvoller ist, als der Vergleich von Nationen – Indien hat knapp 1,4 Milliarden Einwohner, Deutschland gut 83 Millionen. Doch zeigt die Geschichte auch, wie unsinnig und faktengelöst meist Schuldzuweisungen in Richtung einzelner Personen oder Gruppen sind. Die meisten stellen sich als falsch und undifferenziert heraus, sobald man eine sachliche Analyse anstellt.

Der Wunsch nach Einfachheit und Übersicht

Was Rosling mit diesen Geschichten zeigen möchte, ist, dass “der Instinkt der Schuldzuweisung danach strebt, einen klaren und einfachen Grund dafür zu finden, warum etwas Schlimmes passiert ist”. Wir empfinden die Welt sonst als zu unberechenbar, verwirrend und beängstigend. “Dieser Instinkt […] untergräbt unsere Fähigkeit, ein wahres, faktenbasiertes Verständnis unserer Welt zu entwickeln. Wir hören auf zu lernen, sobald wir uns für jemanden entschieden haben, dem wir eine verpassen wollen. […] Stattdessen beharren wir auf engstirnigen Schuldzuweisungen, die uns von der komplexen Wahrheit ablenken und uns daran hindern, unsere Energie auf sinnvolle Ziele zu konzentrieren.”

Der aktuelle Umgang mit der Corona-Pandemie ist ein Beispiel für den Instinkt der Schuldzuweisung: Nationen und Gesellschaften schieben sich die Schuld gegenseitig zu, ohne dass es tatsächlich einen Schuldigen im allgemeinen Sinne gäbe. Als Rosling das Buch 2018 verfasste, konnte er aber noch nicht wissen, wie sehr seine These bestätigt werden würde.

Dennoch findet sich eine passende Anekdote zum aktuellen Geschehen im Buch: Vor der Erfindung von Penicillin gehörte die Syphilis zu den schlimmsten Geißeln der Menschheit. Doch jede Nation hatte ihre eigene Bezeichnung und Schuldzuweisung: In Russland sprach man von der polnischen Krankheit, in Polen von der deutschen, in Deutschland von der französischen, in Frankreich von der italienischen. Die Italiener spielten den Ball zurück und sprachen von der französischen Krankheit.

Fazit

Das Buch Factfulness ist bereits 2018 erschienen, doch passt es perfekt in die heutige Zeit der Corona-Krise. Es bildet ein angenehm nüchternes Gegengewicht zu dem hektischen Nachrichtenfluss der Pandemie und den emotional aufgeladenen Spekulationen, Halbwahrheiten und Verschwörungsmythen, denen wir ausgesetzt sind.

Roslings alternatives Weltbild kann beim Leser durchaus eine Abwehrreaktion hervorrufen und seine Quellen und Fakten sind sicherlich nicht frei von Angriffspunkten. Doch lässt man sich auf die neue Sichtweise ein, lernt man mindestens, seine eigenen Sichtweisen besser zu verstehen und zu hinterfragen. Im besten Fall lässt einen das Buch sogar nachts ruhiger schlafen. So ist das Buch jedem zu empfehlen, der die jetzige außergewöhnliche Zeit nutzen möchte, um seinen Horizont um eine positivere Perspektive zu erweitern und dem vermeintlichen Chaos in der Weilt innerlich entegenzuwirken. (hcz)

Zum Autor

Rosling war Professor für Internationale Gesundheit am Karolinska Institut. Insgesamt 20 Jahre lang erforschte er Krankheiten in abgelegenen ländlichen Gebieten in Afrika. Zudem war er Gründungsmitglied von Ärzte ohne Grenzen in Schweden und beriet die Weltgesundheitsorganisation und das Kinderhilfswerk der vereinten Nationen (UNICEF).

Im Jahr 2017 starb Rosling an Krebs. Factfulness wurde posthum veröffentlicht und von seinem Sohn und seiner Schwiegertochter finalisiert, die den Autor auch schon zuvor bei seiner Arbeit unterstützten.

Titel: “Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist”
Autor: Hans Rosling
Gebundene Ausgabe: 400 Seiten
Verlag: Ullstein; Auflage: 7. (30. August 2019)
Sprache: Deutsch
ISBN-10: 3548060412
ISBN-13: 978-3548060415
Preis: 16,00 EUR