HRW: Zunehmend eingeschränkte Pressefreiheit in Ungarn
Unabhängige Journalistinnen und Journalisten stehen in Ungarn unter immer stärkerem Druck: Die Regierung behindert ihre Arbeit zunehmend – und schränkt damit die Möglichkeiten der Öffentlichkeit ein, an verlässliche und sachliche Informationen zu gelangen. Das kritisiert die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) in einem neuen Bericht. Die Europäische Union (EU) müsse Maßnahmen ergreifen, fordert HRW.
“Das klare Ziel der Aushöhlung der Medienfreiheit ist es, zu verhindern, dass die Öffentlichkeit erfährt, was die Regierung tut oder sie zur Rechenschaft zieht”, konstatierte Hugh Williamson, bei HRW zuständig für Europa und Zentralasien. HRW dokumentiert in dem 29-seitigen Bericht, wie die Pressefreiheit im Land immer weiter eingeschränkt wird. Er basiert unter anderem auf Interviews mit ungarischen Medienschaffenden.
Istvan Devenyi, Redakteur bei der Zeitung Magyar Hang, fasste beispielsweise zusammen: “Ich kann nicht richtig als Journalist arbeiten. Ich bekomme keine Antworten, nicht von Fidesz, nicht von der Regierung, nicht von öffentlichen Institutionen.” Mit der Begründung, es gebe angeblich keinen Platz mehr, dürfe er auch nicht an Pressekonferenzen der Regierung teilnehmen.
Die NGO kritisiert, die ungarische Regierung verwehre ihren Bürgerinnen und Bürgern Zugang zu wichtigen Informationen, indem sie die Arbeit von Medienschaffenden erschwert. Gegenüber HRW hätten Medienschaffende berichtet, dass Behörden nur sehr langsam oder gar nicht auf ihre Anfragen antworten – selbst wenn es um Informationen gehe, die nach Informationsfreiheitsgesetzen zur Verfügung gestellt werden sollten. Auch Regierungsbeamte würden Anfragen nicht beantworten.
“Wenn man überhaupt eine Antwort erhält, was selten der Fall ist, ist sie stark geschwärzt, es ist zu spät, es ist keine Geschichte mehr”, sagte Andras Kiraly, Redakteur der unabhängigen Online-Nachrichtenseite 444.hu gegenüber HRW. “Aber meistens machen sich die Behörden nicht einmal die Mühe, überhaupt zu antworten”, so Kiraly.
Ein anderer Journalist erklärte, die Behörden würden beispielsweise unleserlich gescannte Dokumente übermitteln, um Informationen zu verschleiern. Redaktionen müssten dann erst klagen, um an Antworten zu gelangen – das sei teils zwar erfolgreich, nehme aber viel Zeit in Anspruch.
Kein Zugang zu Pressekonferenzen
Von der Regierung veranstaltete Pressegespräche seien für unabhängige Journalistinnen und Journalisten oft die einzige Möglichkeit, Fragen zu stellen – und manchmal auch Antworten zu erhalten. HRW kritisiert aber, auch bei diesen Veranstaltungen würden regierungsnahe Pressevertreter häufig bevorzugt; manche unabhängige Redaktionen erhielten keine Einladungen.
Im Jahr 2019 wurde sogar die Hausordnung des Parlamentes geändert: Medienschaffende dürfen seitdem nur noch in einem kleinen abgesperrten Bereich arbeiten – den Abgeordnete leicht umgehen können. Auch das Bürogebäude des Ministerpräsidenten ist seit Ende 2021 abgesperrt, sodass Journalisten dort nicht mehr hineingelangen und Fragen stellen könnten, so HRW.
Verleumdung und Spionage
Kritische Medienschaffende und unabhängige Publikationen würden Opfer von Verleumdungskampagnen und von regierungsnahen Medien etwa als “Verräter” oder “Fake-News-Fabriken” diskreditiert.
Ein Untersuchungsausschuss des Europäischen Parlaments war im vergangenen Jahr zudem zu dem Schluss gekommen, dass die ungarische Regierung Überwachungssoftware gegen Medienschaffende, Politiker und Aktivisten eingesetzt hat.
Mindestens vier Journalisten wurden mit der Spähsoftware Pegasus überwacht. Angreifer können damit Smartphones komplett übernehmen und alle darauf gespeicherten Informationen abrufen – und können so unter Umständen auch journalistische Quellen identifizieren.
Lange Entwicklung
Die zunehmenden Einschränkungen sind die Folge einer langen Entwicklung in Ungarn: HRW kritisiert, das regierende Fidesz-KDNP-Bündnis habe bereits nach der Wahl im Jahr 2010 damit begonnen, die Medienfreiheit und -vielfalt gezielt zu untergraben. So wurden beispielsweise noch 2010 neue Mediengesetze verabschiedet und frühere Regulierungsbehörden durch eine zentrale Medienaufsichtsbehörde ersetzt. Der Vorsitzende wird vom Ministerpräsidenten für eine neun Jahre lange Amtszeit bestimmt. Die Behörde kontrolliert auch den den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Der Vorsitzende der Aufsichtsbehörde übernimmt zugleich den Vorsitz des Medienrats, der für die Durchsetzung der Mediengesetze zuständig ist. Die vier weiteren Ratsmitglieder werden mit einer Zweidrittelmehrheit vom Parlament bestimmt – ebenfalls für eine Amtszeit von neun Jahren. HRW bemängelt, angesichts der Fidesz-Zweidrittelmehrheit im Parlament könne der Rat nicht unabhängig agieren.
Öffentlich-rechtlichen Rundfunk unter Kontrolle gebracht
Zudem wurden damals mehr als 1600 Medienschaffende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks MTVA entlassen. Diese seien durch regierungsnahe Mitarbeitende ersetzt worden, wodurch MTVA zu einem staatlich kontrollierten Sender wurde, so HRW.
Aktuelle und ehemalige MTVA-Mitarbeitende berichteten HRW, den Reportern werde von den Redaktionen vorgeschrieben, worüber und wie sie berichten sollen. Auch welche Begriffe sie dabei zu verwenden oder zu vermeiden haben, werde vorgeschrieben.
Mangelnde Vielfalt
Deutlich zeigte sich die zunehmende Medienkonzentration auch im Jahr 2018 mit der Gründung der “Mitteleuropäischen Presse- und Medienstiftung”: Der Orban-Regierung nahestehende Eigentümer hatten damals rund 500 Medien an die Stiftung übertragen.
HRW kritisiert, die Konzentration der Medien stelle eine ernsthafte Gefahr für den Medienpluralismus in Ungarn dar – unter anderem, weil das Risiko einseitiger Berichterstattung erhöht werde. So würden auch viele in der Stiftung vereinte Medien inzwischen regierungsfreundlich berichten.
Andere unabhängige Medien seien in den vergangenen Jahren geschlossen worden, wie die oppositionelle Tageszeitung Nepszabadsag. Oder sie hätten den Besitzer gewechselt und seien “über Nacht” regierungsfreundlich geworden, darunter die Internetportale Index und Origo. Dem kritischen Sender Klubrádió wurde im Juni 2021 die Lizenz entzogen.
Rechtsstaatlichkeitsverfahren der EU
Laut HRW geht die zunehmende Kontrolle der Medienlandschaft durch die Regierung einher mit ihrem Vorgehen gegen die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn – so hat die Regierung die Unabhängigkeit der Justiz ausgehöhlt und öffentliche Einrichtungen vereinnahmt.
Das EU-Parlament hatte bereits im Jahr 2018 ein sogenanntes Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7 der EU-Verträge eingeleitet – es gilt als das schärfste Mittel gegen ein Land des Staatenbundes.
HRW fordert nun in Bezug auf die eingeschränkte Medienfreiheit, weitere Maßnahmen zu ergreifen. Hugh Williamson von HRW erklärte dazu: “Die EU-Institutionen sollten das Verfahren nach Artikel 7 vorantreiben und ihre rechtlichen Durchsetzungsbefugnisse nutzen, um unabhängige Medien und die Informationsfreiheit zu schützen, die derzeit als Folge von Ungarns Abbau der Rechtsstaatlichkeit angegriffen werden.” Ein rasches Handeln des EU-Rats sei wichtig, weil Ungarn im Juli 2024 die rotierende EU-Ratspräsidentschaft übernehmen wird.
Die EU sollte zudem politisch motivierte Einschränkungen der Pressefreiheit öffentlich verurteilen, so HRW. Williamson betonte die Bedeutung unabhängiger Berichterstattung: “Unabhängiger Journalismus ist ein Eckpfeiler der Demokratie und entscheidend, um Regierungen für Machtmissbrauch zur Rechenschaft zu ziehen.”
Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen belegt Ungarn Rang 72 von 180 Staaten. In der EU steht nur Griechenland (Rang 107) auf einem noch schlechteren Platz.
HRW fordert die ungarische Regierung unter anderem dazu auf, die Unabhängigkeit der Medienaufsicht sicherzustellen. Zudem müssten die Informationsfreiheitsgesetze gestärkt werden, damit alle Medienschaffende Zugang zu relevanten Informationen erhalten. (js)