Rangliste der Pressefreiheit: Unabhängige Berichterstattung wird zunehmend unterdrückt
Die weltweite Lage der Pressefreiheit war im Jahr 2022 so instabil wie seit langem nicht. Das teilte Reporter ohne Grenzen (RSF) am heutigen Mittwoch anlässlich der Veröffentlichung der neuen Rangliste der Pressefreiheit mit. Die Rangliste vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten.
Für die instabile Lage macht die Organisation “Krisen, Kriege und die anhaltende Ausbreitung des Autoritarismus” verantwortlich. Entwicklungen wie die Unterdrückung unabhängiger Berichterstattung in Russland oder massenhafte Verhaftungen von Medienschaffenden in der Türkei hätten dazu geführt, dass viele Länder in diesem Jahr auf der Rangliste abgerutscht sind.
Als größtes Problem für die Arbeit von Medienschaffenden benennt die Organisation die Sicherheitslage: Journalistinnen und Journalisten würden willkürlich festgenommen oder zu langen Haftstrafen verurteilt, auf Demonstrationen angegriffen oder kämen in bewaffneten Konflikten ums Leben – oder werden gezielt ermordet. In 36 der 180 untersuchten Länder beurteilt RSF die Sicherheitslage als “sehr ernst”. Dazu zählen Kriegsschauplätze wie die Ukraine oder der Jemen. Aber auch in Staaten wie China, Myanmar und dem Iran müssen Pressevertreter um ihre Sicherheit fürchten. RSF bezeichnet diese drei Länder als die “größten Gefängnisse der Welt für Medienschaffende”. In 33 weiteren Staaten stuft RSF die Sicherheitslage als “ernst” ein.
Auch organisierte Desinformation sei ein wachsendes Problem. In zwei Drittel aller untersuchten Länder gab eine Mehrheit der Befragten an, dass politische Akteure in “massive Desinformations- oder Propagandakampagnen” involviert sind.
Fortschritte in Irland, Rückschritte in Schweden
Angeführt wird die Rangliste im siebten Jahr infolge von Norwegen. Auf dem zweiten Platz folgt Irland und damit zum ersten Mal seit Jahren ein Land außerhalb Skandinaviens. Der Pluralismus auf dem Medienmarkt habe in Irland zuletzt zugenommen, hieß es von RSF. Außerdem schütze ein neues Gesetz Medienschaffende vor missbräuchlichen Verleumdungsklagen. Während Irland im vergangenen Jahr noch Rang 6 belegt hatte, verdrängt es nun Dänemark vom zweiten auf den dritten Platz.
Schweden ist damit auf den vierten Rang abgestiegen. Mit einer Verfassungsänderung wurde dort Auslandsspionage unter Strafe gestellt und ins Strafgesetzbuch aufgenommen. RSF befürchtet, die Gesetzesänderung könne gegen Medienschaffende und Whistleblower verwendet werden. Auch habe es Fälle von Polizeigewalt gegen Pressevertreter gegeben.
Europa weiter sicherste Region
Insgesamt gilt Europa laut RSF weiterhin als sicherste Weltregion für Journalistinnen und Journalisten. Ein Großteil der EU-Mitgliedsstaaten habe ihre Platzierung verbessert, wobei es gravierende Unterschiede gebe.
So ist Deutschland in diesem Jahr um fünf Plätze auf Rang 21 gefallen. Zu erklären sei dies vor allem mit der Platzierung anderer Länder, die sich stark verbessert hätten. Allerdings verzeichnete RSF auch 103 physische Angriffe auf Medienschaffende – der höchste Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2015. Die Mehrheit dieser Attacken (87) habe in “verschwörungsideologischen, antisemitischen und extrem rechten Kontexten” stattgefunden. In Deutschland blieben Versammlungen auch im Jahr 2022 die gefährlichsten Orte für Pressevertreter. RSF geht darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer aus.
RSF fordert in diesem Zusammenhang effektiven Schutz von Medienschaffenden. Viele der von Angriffen betroffenen Reporter äußerten demnach Unzufriedenheit über die Arbeit von Polizei und Justiz. Auch bei angemeldeten Demonstrationen seien Einsatzkräfte oft nicht in der Lage gewesen, die Sicherheit von Pressevertretern zu gewährleisten.
RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske kommentierte: “Die Aggressivität gegenüber Medienschaffenden steigt weiter. Viele Regierungen und gesellschaftliche Gruppen versuchen, kritische Berichterstattung zu unterbinden. Erschreckend ist, dass die Zahl der Übergriffe in Deutschland auf ein Rekordhoch gestiegen ist.”
Kritik äußert die Organisation unter anderem auch am novellierten BND-Gesetz, weil es ausländische Medienschaffende weniger schützt als inländische. RSF hat gegen das Gesetz Verfassungsbeschwerde eingelegt.
Zu den Ländern, die ihre Platzierung verbessert haben, zählen die Niederlande (Rang 6). Nach dem Aufstieg um 22 Plätze sind sie wieder unter den zehn am besten platzierten Ländern vertreten. Im vergangenen Jahr waren die Niederlande durch den Mord an dem bekannten Polizeireporter Peter R. de Vries abgerutscht. Laut RSF hatten die raschen Ermittlungen in dem Fall positive Auswirkungen auf die diesjährige Platzierung. Außerdem habe es einen Rückgang der Gewalttaten gegen Medienschaffende gegeben.
Auch Italien (Rang 41) hat sich um 17 Plätze verbessert. Die Sicherheitslage habe sich dort im dritten Corona-Jahr deutlich beruhigt. Allerdings sorge der Amtsantritt der rechtsextremen Premierministerin Giorgia Meloni für neue Unsicherheiten: Laut RSF haben sie selbst und einige ihrer Kabinettsmitglieder Medienschaffende verklagt.
Der Aufstieg Ungarns (Rang 72) um 13 Plätze liegt laut RSF zum einen an Verschiebungen anderer Platzierungen. Zum anderen habe die Regierung aber auch die Unabhängigkeit der Medien nicht weiter bekämpft – nach Einschätzung von RSF auch wegen der wirtschaftlichen Lage und dem Druck der EU-Institutionen auf die Regierung. Die Regulierungsbehörde sei gezwungen gewesen, die Lizenz eines unabhängigen Radiosenders zu erneuern.
Wie im Vorjahr schneidet Griechenland (Rang 107) im EU-weiten Vergleich am schlechtesten ab. Dort wurde im vergangenen Jahr die Überwachung von Medienschaffenden enthüllt – auch Spähsoftware kam zum Einsatz.
Die Lage der Pressefreiheit in der Türkei (Rang 165) hat sich weiter verschlechtert: Kurz vor den Wahlen am 14. Mai habe Präsident Recep Tayyip Erdoğan “die Daumenschrauben für die Presse noch einmal angezogen”. Massenverhaftungen, neue Anklagen und das umstrittene Desinformationsgesetz seien nur einige Beispiele für das Vorgehen. Auch nach dem schweren Erdbeben Anfang Februar habe die Regierung versucht, die Berichterstattung über die Katastrophe zu kontrollieren.
Russland geht weiter gegen unabhängige Medien vor
Auch Russlands (Rang 164) Position auf der Rangliste hat sich um neun weitere Plätze verschlechtert. Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine seien fast sämtliche unabhängige Medien verboten und als sogenannte ausländische Agenten eingestuft worden. Etwa tausend Medienschaffende hätten das Land verlassen. Die jüngste Inhaftierung des US-amerikanischen Journalisten Evan Gershkovich zeige außerdem, dass auch ausländische Korrespondenten nicht mehr vor strafrechtlicher Verfolgung sicher sind.
Die Ukraine belegt in der Kategorie Sicherheit weltweit den vorletzten Platz – wegen der russischen Kriegsverbrechen gegen Medienschaffende in der Ukraine. Im Jahr 2022 wurden dort mindestens acht Medienschaffende getötet. Insgesamt steht das Land auf Rang 79. RSF begründet dies unter anderem mit der wirtschaftlichen Stabilisierung der meisten Medien.
Gefährlich für Medienschaffende ist weiterhin auch der amerikanische Doppelkontinent: Im Jahr 2022 kam nahezu die Hälfte aller weltweit getöteten Journalistinnen und Journalisten dort ums Leben. Brasilien (Rang 92) ist zwar mit dem Abtritt von Präsident Jair Bolsonaro um 18 Plätze aufgestiegen – RSF beschreibt die Sicherheitslage dort aber weiterhin als “äußerst prekär”. Drei Medienschaffende seien im vergangenen Jahr in Brasilien ermordet worden.
In den USA (Rang 45) verzeichnete RSF rund 30 physische Übergriffe auf Medienschaffende und ein Dutzend Festnahmen. In Las Vegas wurde im September 2022 der Polizeireporter Jeff German ermordet und im Februar 2023 wurde der Fernsehreporter Dylan Lyons bei der Berichterstattung von einem Tatort erschossen.
Das tödlichste Land für Medienschaffende
Mindestens elf Medienschaffende wurden in Mexiko (Rang 128) im Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet – so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Auch in Haiti (Rang 99) wurden laut RSF im vergangenen Jahr sechs Journalisten ermordet. In Peru wurden nach dem Sturz des ehemaligen Präsidenten Pedro Castillo im Dezember 2022 mehr als 60 Menschen getötet und hunderte verletzt, darunter viele Medienschaffende. Das Land steht nun auf Rang 110 (-33 Plätze).
In der Vergangenheit stellte Costa Rica eine Ausnahme in der Region dar. Doch der neue Präsident des mittelamerikanischen Landes, Rodrigo Chaves, habe sich in den ersten Monaten seiner Amtszeit durch Drohungen und Einschüchterungsversuche gegenüber Medien hervorgetan. Das Land rutschte von Rang 8 auf Rang 23. Damit fällt kein Land auf dem Kontinent mehr in die Kategorie “gute Lage”.
Auch in über der Hälfte der Länder des Nahen Ostens und Nordafrikas ist die freie Berichterstattung stark eingeschränkt – die Lage der Pressefreiheit in der Region stuft RSF als “sehr ernst” ein. Das Schlusslicht bildet der Iran (Rang 177), wo seit dem gewaltsamen Tod der Studentin Jina Mahsa Amini die Verfolgung von Medienschaffenden noch verschärft wurde. Auch in Ägypten (Rang 166) und Saudi-Arabien (Rang 170) würden Medienschaffende eingesperrt. Syrien (Rang 175) bleibt eines der gefährlichsten Länder der Welt für Journalisten.
Während sich die Lage der Pressefreiheit in einigen afrikanischen Ländern verbessert hat, seien die Arbeitsbedingungen in Subsahara-Afrika generell “deutlich schwieriger” geworden. In mehreren Ländern missbrauchten Regierungen die Medien als Propagandainstrumente. Zwischen September 2022 und Januar 2023 wurden in Subsahara-Afrika insgesamt fünf Journalisten ermordet, unter ihnen Martinez Zogo in Kamerun (Rang 138).
Regime in Asien schränken Pressefreiheit ein
Einige der “schlimmsten Regime für Medienschaffende weltweit” herrschen laut RSF in der Region Asien-Pazifik. So halte der “Terror” gegen Berichterstatter in Myanmar (Rang 173) auch zwei Jahre nach dem Militärputsch an, mehr als 75 sind in dem Land inhaftiert. Auch in Afghanistan (Rang 152) blieben die Arbeitsbedingungen weiter gefährlich. In Bangladesch (Rang 163) und Kambodscha (Rang 147) ordneten die Regierungen die Schließung von Zeitungen an.
Indien rutschte auf der Rangliste weiter ab und liegt nun auf Platz 161 – die Übernahme von Medien durch reiche, dem Premier nahestehende Geschäftsleute gefährdeten den Pluralismus. Viele indische Medienschaffende würden außerdem durch Hetzkampagnen in die Selbstzensur getrieben.
Auch die Schlussgruppe der Rangliste bilden Länder aus Asien: Auf den Plätzen 178 bis 180 liegen Vietnam, China und Nordkorea. Die Lage in China hat sich demnach weiter verschlechtert. Laut RSF sitzen in keinem anderen Land der Welt mehr Medienschaffende wegen ihrer Arbeit im Gefängnis – aktuell seien es mindestens 100. In Nordkorea lässt das Regime keinerlei unabhängige Berichterstattung zu.
Seit dem Jahr 2022 wird die Rangliste der Pressefreiheit nach einer neuen Methodik erstellt, weshalb der Vergleich mit früheren Ranglisten nur eingeschränkt möglich ist. Die Rangliste stützt sich nun auf fünf Indikatoren: Neben Sicherheit sind dies politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher Kontext und soziokultureller Kontext.
Die diesjährige Rangliste der Pressefreiheit spiegelt die Situation vom 1. Januar bis zum 31. Dezember 2022 wieder. (js)