Jugendschutzfilter blockiert Aufklärungsinhalte

Kind mit Tablet
JusProg filtert Webseiten zunächst automatisch per Algorithmus. Erst wenn dafür Zeit ist, kontrollieren menschliche Mitarbeiter die Korrektheit der Alterseinstufung. (Quelle: IMAGO / Pond5 Images)

Der Jugendschutzfilter JusProg soll weit mehr Internetseiten blockiert haben, als eigentlich vorgesehen. Wie Recherchen des Bayerischen Rundfunks und der Nachrichtenseite netzpolitik.org ergeben haben, sperrte die weit verbreitete Software Kindern und Jugendlichen auch den Zugang zu harmlosen – teils explizit an Jugendliche gerichteten – Seiten. Darunter Beratungsangebote zu Sexualität, psychischer Gesundheit oder Kinderrechten.

In einer Stichprobe im Dezember fanden die Redaktionen 74 Webseiten, die Rat und Aufklärung für Kinder oder Jugendliche anbieten, aber von JusProg mit der Altersempfehlung ab 18 Jahren versehen wurden und somit für Minderjährige nicht mehr zugänglich waren. Dabei waren alle untersuchten Webseiten für Kinder und Jugendliche harmlos. In mindestens 70 Fällen habe es sich gar um öffentlich finanzierte oder gemeinnützige Angebote gehandelt.

Die Betreiber der Online-Angebote wurden nicht darüber informiert, dass ihre Seiten für bestimmte Altersgruppen gesperrt sind. Sie erfuhren erst von der Filterung, als die beteiligten Redaktionen sie darüber informierten.

Absurde Filterung

Für die Recherche hatten die Redaktionen Suchanfragen bei Google gestellt – zu sensiblen Themen, mit denen sich Minderjährige typischerweise beschäftigen: unter anderem Outing, ungewollte Schwangerschaft oder Drogensucht. Anschließend wurde geprüft, ob die von der Suchmaschine ausgegebenen Webseiten von JusProg für Minderjährige blockiert werden.

Technische Vorarbeit hatte die IT-Sicherheitsexpertin Lilith Wittmann geleistet. Ihre eigene Untersuchung hat sie in ihrem Blog dokumentiert. Wittmann fand unter den angeblich jugendgefährdenden Seiten auch Absurditäten wie Apotheken, Pizzalieferanten, Supermärkte und eine freiwillige Feuerwehr.

Auch wurden viele Seiten mit dem Begriff “queer” in der URL von dem JusProg-Filter als ab 18 Jahren eingestuft. Wittmann zufolge konnte bei keiner dieser Seiten nachvollzogen werden, warum diese gefährlich sein sollen.

Manuel Hofmann, Mitentwickler der ebenfalls gesperrten Seite “Mein Coming Out” der Deutschen Aidshilfe nannte die Filterung gegenüber netzpolitik.org einen Skandal. “Ich frage mich schon, was es auslöst, wenn ein queerer Jugendlicher auf die Seite meincomingout.de geht, und dann heißt es: Das ist ein Inhalt, den du nicht sehen darfst. Das ist grotesk”, sagte Hofmann gegenüber dem BR.

Was ist JusProg?

Bei JusProg handelt es sich um ein Programm, das Kinder und Jugendliche vor Internetseiten mit nicht altersgerechten Inhalten schützen soll. Dazu wird es auf den Geräten der Kinder oder im Heimnetzwerk installiert. Es lässt sich aber auch in WLAN-Hotspots nutzen. Der Filter lässt sich für die Altersstufen 0, 6, 12, 16 und 18 Jahren einstellen und verwehrt beispielsweise den Zugang zu pornografischen Inhalten oder solchen mit Gewaltbezug.

JusProg ist die einzige Software ihrer Art, die hierzulande nach den gesetzlichen Vorgaben anerkannt ist. Sie ist kostenlos und wird von dem zugehörigen Verein JusProg e.V. betrieben. Zu seinen Mitgliedern gehören etwa die RTL-Gruppe, ProSiebenSat.1, Vodafone, die Telekom oder der Verband der deutschen Games-Branche.

Wie JusProg entscheidet

Die Betreiber von Webseiten können in Selbstverpflichtung eine Alterseinstufung maschinenlesbar im Quellcode hinterlegen. Allerdings war diese Information in der Recherche nicht ausschlaggebend. Bei der Altersklassifizierung setzt das Programm auf Algorithmen, die nach bestimmten Stichworten auf der Seite suchen. Diese würden unterschiedlich stark gewichtet und für bestimmte Alterseinstufungen sprechen.

Anschließend prüfen Mitarbeiter die Alterseinstufungen manuell und können sie gegebenenfalls korrigieren. Wie viel Personal dafür zur Verfügung steht, darüber schweigt JusProg. Wie schnell eine Einstufung geprüft werde, hänge aber davon ab, wie viele Besucher eine Seite hat. Das war laut JusProg der Grund, warum die falschen Alterseinstufungen der entdeckten Seiten noch nicht korrigiert waren – sie hatten “vergleichsweise geringe Zugriffe”.

JusProg lenkt ein

JusProg hat auf die Rechercheergebnisse prompt reagiert: Ein Großteil der fälschlicherweise ab 18 Jahren markierten Seiten bekam nach der Kontaktaufnahme durch die Redaktionen eine niedrigere Alterseinschätzung, wie netzpolitik.org berichtet.

JusProg räumte gegenüber den Redaktionen das Overblocking in einigen Fällen ein. “Jede unerwünscht blockierte Webseite ist ärgerlich, in sensiblen Themenbereichen ganz besonders”, schrieb Stefan Schellenberg, Vorsitzender von JusProg e.V. an netzpolitk.org. Der Verein habe öffentliche Webseiten erneut händisch geprüft und “wenige weitere Fehler” entdeckt.

Auch Nutzerinnen und Nutzer können sich online bei JusProg melden, um über falsche Alterseinstufungen zu informieren. Der Verein verspricht auf seiner Webseite, Meldungen innerhalb einiger Tage manuell zu überprüfen.

Minderjährigen, die gefilterte Seiten besuchen möchten, rät JusProg in der jeweiligen Sperrmeldung, sich an ihre Eltern zu wenden. “Falls Du damit [mit der Sperre] nicht einverstanden bist, hast du Du die Möglichkeit, diese Website dennoch von deinen Eltern freigeben zu lassen. Klick bitte dafür auf den Button ‘Seite wünschen’ und gib das Handy deinen Eltern.”

Bei vielen der zu Unrecht blockierten Webseiten werden Jugendliche dies aber wohl eher nicht tun: Denn diese behandeln Themen wie Sexualität, Geschlechtsidentität oder Suizidgedanken – also keine Inhalte, über die Minderjährige unbedingt gerne mit ihren Eltern sprechen möchten. Bei vielen der Themen liegt der Grund für die Online-Recherche der Minderjährigen gerade darin, dass sie mit niemanden darüber sprechen können oder wollen.

Auch Erwachsene betroffen

Nicht ihre Eltern nach Erlaubnis fragen, können zahlreiche Nutzerinnen und Nutzer von öffentlichen Internetzugängen, die mit JusProg abgesichert sind. Denn auch staatliche Stellen setzen die Software für öffentliche WLAN-Hotspots ein – da es die einzige zertifizierte Lösung ist. Auf diesem Weg können auch Erwachsene in Mitleidenschaft des Overblockings gezogen werden. Als Beispiel nennt netzpolitik.org das kostenlose BayernWLAN des Landes Bayern.

Es kommt mit mehr als 44.000 Hotspots in öffentlichen Einrichtungen wie Büchereien, Bushaltestellen oder Wohnheimen zum Einsatz. 11 Millionen Menschen sollen das Angebot jeden Monat nutzen. Der Betreiber, das bayerische Landesamt für Digitalisierung, setzt hier in der Regel auf den Filter für Inhalte ab 18 Jahren.

Thomas Lohninger, Geschäftsführer des gemeinnützigen Vereins epicenter.works, spricht gegenüber netzpolitk.org von einem gesamtgesellschaftlichen Problem, wenn Overblocking in öffentlichen WLANs stattfindet. “Gerade einkommensschwache Bevölkerungsgruppen werden oft auf solche öffentlichen WLAN-Angebote zurückgreifen und damit überproportional in ihren Rechten beschnitten”, warnte er. (hcz)