Medienstaatsvertrag: Die Idee vom regulierten Netz

Telegram
Internetmedien wie Telegram zu regulieren, ist nicht so einfach wie bei der klassischen Presse. Dennoch versucht es Deutschland mithilfe des Medienstaatsvertrags.

Halbwahrheiten und Lügen verbreitende Blogs, Facebook-Seiten und Telegram-Kanäle könnten es bald schwerer haben. Denn spätestens ab Mitte November sollen die Landesmedienanstalten sie regulieren und darauf achten, dass journalistische Internetmedien ihren Sorgfaltspflichten nachkommen. So ist es im neuen Medienstaatsvertrag festgehalten, den mittlerweile alle Landesparlamente abgesegnet haben. Er ersetzt den Rundfunkstaatsvertrag von 1991. Ob die neue Regelung aber wirklich die dynamische Internetmedienlandschaft besser in den Griff bekommt, bleibt an einigen Stellen fraglich.

Zu den Neuerungen gehört die Verpflichtung für netzbasierte Nachrichtenmedien, sich an journalistische Grundsätze zu halten. Nachrichten müssen beispielsweise vor der Veröffentlichung auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Mithilfe des neuen Gesetzes könnten auch Angebote wie “KenFM”, “Tichys Einblick” oder die für russische Propaganda bekannte Plattform “RT Deutsch” für falsche Berichterstattung belangt werden.

Sorgfaltspflichten auch für Telemedien

Um was für eine Art Internetmedium es sich handelt, also Webseite, Social-Media-Gruppe oder auch Twitter-Account, spielt keine Rolle. Der Medienstaatsvertrag spricht ganz allgemein von “Telemedien” und gilt für alle Anbieter, die in Deutschland niedergelassen sind. Für sie gilt: “Telemedien mit journalistisch-redaktionell gestalteten Angeboten, in denen insbesondere vollständig oder teilweise Inhalte periodischer Druckerzeugnisse in Text oder Bild wiedergegeben werden, haben den anerkannten journalistischen Grundsätzen zu entsprechen. Gleiches gilt für andere geschäftsmäßig angebotene, journalistisch-redaktionell gestaltete Telemedien, in denen regelmäßig Nachrichten oder politische Informationen enthalten sind und die nicht unter Satz 1 fallen.” (§19 Absatz 1)

Nun sollen also auch internetbasierte Nachrichtenformate verpflichtet werden, sich zu den Grundsätzen zu bekennen, die bislang für klassische journalistische Medien wie Zeitungen, verlagsgebundene Nachrichten-Webseiten, und Radio- und TV-Sendungen galten. Gerüchten, Mythen und falschen Behauptungen soll der Medienstaatsvertrag entgegenwirken: “Nachrichten sind vom Anbieter vor ihrer Verbreitung mit der nach den Umständen gebotenen Sorgfalt auf Inhalt, Herkunft und Wahrheit zu prüfen.”

Für die Regulierung klassischer journalistischer Medien ist in Deutschland der Presserat zuständig. Er nimmt Beschwerden entgegen und entscheidet über mögliche Sanktionen. Außerdem unterstehen die Medien dem Presserecht und können beispielsweise zu Gegendarstellungen verpflichtet werden. Messenger-Gruppen und private Blogs fallen in der Regel nicht unter die Kontrolle des Presserats.

Freiwillige Selbstkontrolle

Auch die Internetmedien könnten sich aber laut Medienstaatsvertrag einer Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle anschließen und somit der Regulierung durch die Landesmedienanstalten im Normalfall entgehen.

Diese Einrichtung würde dem bereits existierenden Presserat ähneln, wäre aber für Angebote im Netz zuständig. Sie müsste unabhängig sein und eine Medienanstalt müsste sie anerkennen. Bislang gibt es keine solche Einrichtung, da der Medienstaatsvertrag noch nicht in Kraft getreten ist. Im Extremfall aber – sollte die Einrichtung der Selbstkontrolle die Grenzen ihres Beurteilungsspielraums überschreiten – kann die zuständige Medienanstalt weiterhin einschreiten.

Ausgeschlossen sind Medien, die jetzt schon der Selbstregulierung durch den Pressekodex beziehungsweise den Deutschen Presserat unterliegen.

Zu analog gedacht

Die Medienanstalten sollen durch den Rundfunkbeitrag finanziert werden und möglichst frei von staatlicher Einflussnahme agieren. Im Falle eines Verstoßes soll die Medienanstalt eingreifen, die für die jeweilige Region zuständig ist, in der das beanstandete Medium seinen Sitz hat.

Die rechte Nachrichtenseite PI News
Das Internet kennt keine Staatsgrenzen – und es dürfte in Fällen wie der rechtsradikalen Seite PI News nicht leicht werden, den Standort der Betreiber zu ermitteln.

Die Nachrichtenseite netzpolitik.org weist darauf hin, dass bei dieser Regelung Unklarheiten bei der Zuständigkeit vorprogrammiert sind. Denn einige Angebote – vor allem solche, die am Rande der Legalität arbeiten – haben kein Impressum auf ihrer Seite. So gibt es auch keine direkten Hinweise auf ihren Standort. Als Beispiel nennt netzpolitik den rechtsradikalen Blog “PI News”.

Auch beispielsweise in Telegram-Gruppen – bei denen schon rein technisch kein Impressum vorgesehen ist – wird die Regelung an Grenzen stoßen. Netzpolitik verweist als Beispiel auf den Anhänger der Verschwörungsmythen-Gruppe “QAnon” Oliver Janich. Er verbreite seine Theorien via Telegram vermutlich von den Philippinen aus.

Bezüglich dieser Zuständigkeitsproblematik hat netzpolitik.org 14 Medienanstalten angeschrieben. Tobias Schmid, Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM) antwortete, dass seine Behörde beispielsweise für das rechte in Köln sitzende Jugendportal “Flinkfeed” zuständig sei. Gegenüber der Nachrichtenseite sagte Schmid: “’Flinkfeed’ ist sicherlich ein Angebot, dass wir im Hinblick auf unsere zukünftig erweiterten Kompetenzen besonders in den Blick nehmen werden.”

Die anderen Medienanstalten antworteten hingegen nur vage und wollten sich nicht zu konkreten Internetmedien äußern. Zudem erweckten die Behörden ihren Antworten nach teils den Eindruck, noch nicht ausreichend für die bevorstehende Aufgabe gerüstet zu sein. Netzpolitik schreibt, aus den Antworten sei deutlich geworden, dass der Medienstaatsvertrag “für die Aufsichtsbehörden wohl zunächst als Experiment beginnen wird”.

Konsequenzen eines Verstoßes

Stellt eine Medienanstalt einen Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten bei einem Medium fest, kann diese das Problem beanstanden und gegebenenfalls das Angebot untersagen oder sogar sperren lassen. Bußgelder kann die Behörde nicht verhängen und so klafft zwischen der harmlosen Strafe einer Beanstandung und der existenzbedrohenden Sperre eine Lücke im Maßnahmenkatalog.

Auch könnten die Maßnahmen als Einschränkung der Pressefreiheit beanstandet werden. Dieser Konflikt müsste dann vor Gericht ausgetragen werden.

Einfluss ungewiss

Ob der Medienstaatsvertrag wirklich die große Wende im Kampf gegen Lügen und falsche Nachrichten im Internet einläutet oder sich als Papiertiger herausstellt, wird davon abhängig sein, wie die einzelnen Landesmedienanstalten darauf reagieren. Denn die Behörden sind keineswegs dazu gezwungen, von selbst gegen Verstöße vorzugehen oder danach zu fahnden. Vielmehr wird es der Fall sein, dass Internetnutzerinnen und -nutzer die Behörden auf Verstöße hinweisen und diese dann den Hinweisen nachgehen. Mit welcher Intensität die Beamten das tun, liegt in ihrem Ermessen.

Telegram-Kanal einer deutschsprachigen QAnon-Gruppe
Verschwörungsgruppen wie QAnon tauschen sich mittlerweile auch über den Messenger Telegram aus. Betreiber sind meist noch schwerer auszumachen als bei Webseiten.

Wie viel Personal für die Medienaufsicht zuständig sein wird, entscheiden die einzelnen Landesmedienanstalten. Laut netzpolitik.org sind es bislang fünf bis zehn Personen pro Behörde, die auch noch andere Aufgaben erfüllen müssen. In Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise besteht die Aufsicht aus nur zwei Personen, mindestens eine weitere soll eingestellt werden. Bremen verweigerte es, eine genaue Angabe zu tätigen. In Bayern sind 86 Vollzeitstellen vorgesehen.

Kerstin Liesem, Professorin für öffentliches Recht an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen vermutet, dass die Medienanstalten an ihre Grenzen stoßen, wenn viele Beschwerden eintreffen sollten. “Die Medienanstalten werden erstmal abwarten und wenn viel neue Arbeit anfällt, müssen sie aus meiner Sicht neue Mitarbeiter einstellen”, kommentierte sie.

Kontrolle von Facebook, Google & Co.

Im Medienstaatsvertrag ist auch die Rede von “Medienintermediären”. Damit sind Betreiber wie Facebook und YouTube beziehungsweise Google gemeint, die selbst keine Inhalte erstellen, aber die Plattform dafür zur Verfügung stellen. Für sie sind im Staatsvertrag ebenfalls Regeln festgehalten. Ob sich ihr Hauptsitz in Deutschland befindet, ist irrelevant. Die Regelungen gelten, wenn das Angebot in Deutschland mehr als eine Million Menschen pro Monat erreicht und auch auf deutsche Nutzer abzielt.

Der Medienstaatsvertrag fordert: “Anbieter von Medienintermediären haben im Inland einen Zustellungsbevollmächtigten zu benennen und in ihrem Angebot in leicht erkennbarer und unmittelbar erreichbarer Weise auf ihn aufmerksam zu machen.” So sollen gerade Firmen aus dem Ausland juristisch greifbar bleiben für die Landesmedienanstalten.

Auch müssen die Plattformen Informationen darüber zur Verfügung stellen, nach welchen Kriterien Inhalte genehmigt oder abgelehnt werden. Außerdem muss nachzulesen sein, nach welchen Kriterien – und eventuell Algorithmen – die Inhalte gewichtet werden, also beispielsweise, warum Inhalte auf der Startseite landen oder empfohlen werden.

Rechtmäßigkeit ungewiss

Ob die Landesmedienanstalten überhaupt eingreifen dürfen, wenn die großen Plattformen gegen die Auflagen verstoßen, ist ungewiss. Denn die europäische E-Commerce-Richtlinie schreibt ein Herkunftsrecht vor: Facebook, das seinen europäischen Sitz in Irland hat, darf eigentlich nur von den dortigen Behörden reguliert werden.

Die Europäische Kommission hatte bereits im April ihre Bedenken in Bezug auf den Medienstaatsvertrag mitgeteilt. “Einige Bestimmungen des deutschen Vertragsentwurfs werfen Bedenken auf, ob sie mit EU-Recht vereinbar sind.”, sagte Jörg Wojahn, Vertreter der Europäischen Kommission in Deutschland damals. Mitgliedstaaten versuchten zunehmend mit unterschiedlichen nationalen Vorschriften, Probleme von grenzüberschreitendem Ausmaß anzugehen. Das sei eine uneffektive Herangehensweise, um die europäischen Werte und eine vielfältige Medienlandschaft im Online-Umfeld zu fördern.

Gleichzeitig arbeitet die EU-Kommmission an dem Digitale-Dienste-Gesetz (Digital Services Act). Es wird die 20 Jahre alte E-Commerce-Richtlinie erneuern und sieht auch eine einheitliche Regulierung für große Internetplattformen vor. Der deutsche Medienstaatsvertrag stelle laut netzpolitik.org hingegen eine “nationale Extrawurst” dar. (hcz)