Moskau: Zugriff auf staatliche Gesichtserkennung über Telegram
Die russische Datenschutzorganisation Roskomsvoboda hat mehrere Telegram-Kanäle entdeckt, in denen Unbekannte Zugang zur staatlichen Gesichtserkennung versprechen. Wer ein Personenfoto einschickt und umgerechnet etwa 175 Euro bezahlt, erhält eine Liste von Adressen, an denen die Überwachungssysteme die Person auf dem Bild erfasst haben. Die Organisation ist zu Recherchezwecken auf ein solches Angebot eingegangen – und klagt nun gegen die Gesichtserkennung.
Eine Roskomsvoboda-Aktivistin hatte testweise ihr eigenes Bild eingereicht, berichtet die Nachrichtenagentur Reuters. Zwei Tage später erhielt sie eine Liste von Orten in Moskau, an denen sie Kameras aufgenommen hatten: insgesamt 79 Bilder mit Adresse und Zeit der Aufnahmen.
Anhand wiederkehrender Orte ließ sich nachvollziehen, wo die Aktivistin wohnt und arbeitet. Die Organisation warnt, dass Kriminelle so beispielsweise feststellen können, wann jemand das Haus verlässt, um dort einzubrechen. Auch Stalker hätten leichtes Spiel, wenn sie einer Person nachstellen wollen.
Ermittlungen gegen Polizisten
Nachdem der Fall in Moskau bekannt wurde, wird nun gegen zwei Polizeibeamte ermittelt. Sie sollen das Gesichtserkennungssystem missbraucht haben, schreibt Reuters. Die Aktivisten kritisieren jedoch, dass das Problem viel weitreichender sei: So ist gesetzlich nicht genau festgelegt, wann die Polizei die Technik einsetzen darf. Zudem gebe es keine gerichtliche Kontrolle.
Die für die Gesichtsüberwachung zuständige Technologiebehörde erklärte Reuters, Beamte könnten den Zugang zu der Gesichtsdatenbank beantragen, um dann nach gesuchten Personen zu fahnden. Dritten Zugang zu dem System zu gewähren, sei eine Straftat und werde den zuständigen Ermittlungsbehörden gemeldet. Allerdings ist die Behörde der Auffassung, dass mit den gespeicherten Aufnahmen keine persönlichen Daten erfasst werden – es seien nur Bilder.
Bereits im Januar hatte der russische Journalist Andrej Kaganskich der ARD-Sendung “Weltspiegel” von dem Missbrauch der Gesichtserkennung berichtet. Er hatte sich im Internet Zugang zu dem System gekauft und eine 80-seitige Trefferliste erhalten. Viele der abgebildeten Menschen sahen ihm sehr ähnlich – einen direkten Treffer hatte es aber nicht gegeben.
Aktivisten klagen gegen Gesichtserkennung
Zwei Mitglieder von Roskomsvoboda gehen nun gerichtlich gegen die Gesichtserkennung in Moskau vor. Sie wollen, dass das System abgeschaltet wird, bis es eine rechtliche Grundlage gibt. Das Verfahren soll im Dezember beginnen.
Laut ARD gibt es in Moskau mehr als 170.000 Überwachungskameras. Gut 3000 davon waren Anfang des Jahres an das Gesichtserkennungssystem angeschlossen. Außer für die Strafverfolgung werden die Kameras auch eingesetzt, um Ausgangsbeschränkungen während der Corona-Pandemie zu kontrollieren.
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte
Die Mitglieder von Roskomsvoboda sind nicht die einzigen, die gegen die russische Gesichtserkennung vorgehen: Die Anwältin Aljona Popowa hatte schon zuvor gegen die Gesichtserkennung in Moskau geklagt. Denn nach Protesten im Jahr 2019 seien Aktivisten per Gesichtserkennung identifiziert und festgenommen worden. Auch Popowa wurde festgenommen, nachdem sie vor dem russischen Parlament demonstriert hatte. Ihre Klage wurde im Herbst 2019 jedoch von einem russischen Gericht abgewiesen. Auch die Berufung wurde im März abgewiesen, berichtet Reuters.
Im Sommer dieses Jahres haben Popowa und der Oppositionspolitiker Vladimir Milov daher Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht. Der EGMR kümmert sich um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention, die auch Russland unterzeichnet hat. Popowa argumentiert, dass die Gesichtserkennung das Recht auf Privatsphäre und die Versammlungsfreiheit verletzt. Es könne außerdem genutzt werden, um die Opposition zu kontrollieren. Während das Verfahren noch anhängig ist, will die Stadt Moskau weitere Überwachungskameras installieren, schreibt Reuters. (js)