Türkei geht mit Antiterrorgesetz gegen freie Presse vor
Derzeit sind mindestens zwölf Journalistinnen und Journalisten in der Türkei angeklagt, weil ihnen Straftaten nach dem Antiterrorgesetz vorgeworfen werden, berichtet die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG). Zunehmend drohe Medienschaffenden die Inhaftierung, wenn sie etwa über türkische Waffenlieferungen nach Syrien oder Vergehen der Sicherheitskräfte berichten. Reporter würden systematisch mit dem Vorwurf der “Spionage”, “terroristischer Propaganda” oder der “Diffamierung” des Justizsystems oder der Sicherheitskräfte angeklagt.
So hat am vergangenen Dienstag beispielsweise der Prozess gegen den Chefredakteur der Zeitung “Cumhuriyet”, Olcay Büyükbaş Akça, begonnen. Vor Gericht steht außerdem Alican Uludağ, der zuvor als Reporter für die Zeitung gearbeitet hat. Beide hatten über Versäumnisse der Sicherheitsbehörden im Zusammenhang mit dem Anschlag in Ankara im Oktober 2015 berichtet, bei dem 107 Menschen gestorben waren. So soll die Verfolgung einer Gruppe eingestellt worden sein, die nach Material zur Herstellung der später verwendeten Bomben gesucht hatte.
Den Journalisten drohen jeweils drei Jahre Gefängnis, weil sie angeblich “Antiterror-Beamte der Bedrohung durch terroristische Organisationen” ausgesetzt haben sollen.
Staatsanwaltschaften gehen in Berufung
Reporter ohne Grenzen kritisiert, dass selbst ein Freispruch Betroffenen nicht unmittelbar helfe: Die Staatsanwaltschaften hätten in der Vergangenheit stets Berufung eingelegt, um dann eine Verurteilung durch ein höheres Gericht zu erwirken.
Dies sei auch dem nun erneut angeklagten Uludağ bereits passiert: Nach einem Freispruch in einem anderen Fall im Oktober 2020 habe die Staatsanwaltschaft Berufung eingelegt. Das Urteil wird in den kommenden Monaten erwartet. Bereits am 3. Februar sei der Journalist zu einer Haftstrafe verurteilt worden, weil er in einem Tweet auf die Inhaftierung des Vorsitzenden der pro-kurdischen Partei HDP angespielt hatte.
Drei weitere Journalisten stehen derzeit vor Gericht, weil sie einen Polizeibeamten identifiziert hatten, der bei den Anti-Regierungsprotesten im Jahr 2013 den unbeteiligten Berkin Elvan mit einer Tränengasgranate getroffen haben soll. Der Jugendliche starb nach mehrmonatigem Koma an seinen Verletzungen.
Außerdem müssen sich drei Journalisten der Zeitung “Cumhuriyet” vor Gericht verantworten, weil sie über einen illegalen Anbau am Haus eines Regierungssprechers berichtet hatten. Ein Gericht hatte entschieden, dass der Sprecher als “Antiterror-Agent” einzustufen ist – jetzt drohen den Journalisten jeweils drei Jahre Haft.
Ehemaliger “Cumhuriyet”-Redakteur weiter im Visier der Justiz
Die Türkei versuche zudem weiterhin, den ehemaligen “Cumhuriyet”-Redakteur Can Dündar juristisch zu verfolgen. Der im Exil in Deutschland lebende Journalist wurde bereits im Dezember in Abwesenheit zu 27 Jahren Haft verurteilt. Er hatte im Jahr 2015 über Waffenlieferungen der türkischen Regierung an Rebellen in Syrien berichtet. Nach Ansicht der Richter hatte er sich damit der Spionage und Terrorunterstützung schuldig gemacht.
Laut Reporter ohne Grenzen wurde das türkische Antiterrorgesetz 1991 eingeführt und wird seitdem wiederholt zur Einschüchterung von Journalisten eingesetzt: Erst Anfang Februar wurde der Türkei-Repräsentant der Organisation, Erol Önderoglu, angeklagt: unter anderem wegen “Propaganda für eine terroristische Organisation”. Ihm drohe eine Haftstrafe von bis zu 14 Jahren und sechs Monaten.
Auf der Rangliste der Pressefreiheit steht die Türkei auf Platz 153 von 180. Die Regierung kontrolliere mittlerweile rund 90 Prozent der nationalen Medien. Anfang Mai seien mindestens 16 Journalistinnen und Journalisten in direktem Zusammenhang mit ihrer Arbeit inhaftiert gewesen.
Im Mai hatte Reporter ohne Grenzen an Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) appelliert, beim Treffen mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Cavusoglu die Freilassung inhaftierter Journalisten zu fordern. (js)