Umweltbundesamt warnt vor mehr Arzneimittelresten in der Umwelt

Wasserprobe
Nur ein geringer Teil eingenommener Medikamente verbleibt im Körper, der Großteil gelangt ins Abwasser. (Quelle: IMAGO / localpic)

Arzneimittel sind inzwischen in der Umwelt verbreitet und auch im Trinkwasser nachweisbar, meldet das Umweltbundesamt (UBA). In Deutschland wurden bislang mindestens 414 verschiedene Arzneimittelwirkstoffe beziehungsweise deren Transformationsprodukte in der Umwelt nachgewiesen.

Arzneimittel sollen im Körper wirken. Doch je nach Präparat werden bis zu 90 Prozent des enthaltenen Wirkstoffes unverändert wieder ausgeschieden und gelangen ins Abwasser. Kläranlagen fangen dem UBA zufolge nur einen Teil der Substanzen ab. In Gewässern seien Arzneimittel daher ebenso nachzuweisen wie – in deutlich geringeren Mengen – im Trinkwasser.

Zwar müssen die Hersteller Studien zu Umweltverhalten und -toxizität durchführen. Publik werden die Ergebnisse aber Experten zufolge kaum. “Umweltbehörden und Öffentlichkeit kommen an die Daten oft nicht heran”, erklärt die Juristin und Umweltwissenschaftlerin Kim Teppe vom Umweltbundesamt (UBA). Effektiver Gewässerschutz sei in der Folge erheblich erschwert.

Anders als etwa bei Industriechemikalien müssten Arzneimittelhersteller bisher nur bei den Zulassungsbehörden Daten einreichen und könnten sich zudem auf umfangreiche Ausnahmen berufen, sodass in der Praxis oft gar keine Daten vorgelegt werden, wie Teppe erklärt.

Dies könnte sich nun ändern: Auf EU-Ebene laufen derzeit Verhandlungen für neue Regelungen. Die Kommission hat angekündigt, in den kommenden Tagen oder Wochen einen ersten Entwurf für das neue Humanarzneimittelrecht vorzulegen. “Darin sind dann hoffentlich Umweltbelange wie das Schließen von Datenlücken und die Datentransparenz wenigstens ansatzweise schon adressiert”, hofft Teppe.

Tiere verenden an Wirkstoffen

Die Substanz Diclofenac – in Deutschland unter anderem Bestandteil von Salben, die gegen Schmerzen wirken sollen – ist ein Beispiel dafür, dass Arzneistoffe ebenso überraschende wie furchtbare Folgen für Natur und Umwelt haben können: Als indische Landwirte in den 1990er-Jahren begannen, ihre Rinder mit Diclofenac zu behandeln, begann ein Massensterben der Geier. Bestände schrumpften um 90 Prozent und mehr, einige Arten starben fast aus. Das Mittel verursacht bei den Greifvögeln, die es beim Verzehr von Kadavern aufnehmen, schon in kleinsten Mengen ein qualvolles, tödliches Nierenversagen.

Allein in Deutschland werden pro Jahr etwa 80 Tonnen des Wirkstoffes verbraucht. “Maximal sechs Prozent kommen am gewünschten Zielort im Körper an”, sagt Gerd Maack von der Fachgruppe zur Umweltbewertung von Arzneimitteln des UBA. “Die Haut ist eine effektive Barriere, das ist ja auch ihre Aufgabe.” Als Salbe aufgetragen gehe der Großteil des enthaltenen Wirkstoffs beim Händewaschen, Duschen oder dem Waschen der getragenen Kleidung ins Abwasser. In den Kläranlagen werde nur ein Teil eliminiert. Das Schmerzmittel Diclofenac schädigt bei Fischen innere Organe wie Leber und Niere.

Weitere Beispiele schädlicher Eintragungen sind synthetische Hormone wie der Wirkstoff der Anti-Baby-Pille (17α-Ethinylestradiol). Selbst in winzigen Mengen im Nanogrammbereich beeinträchtigt er die Reproduktion von Fischen. Und Antibiotikarückstände können das Wachstum von Algen und Pflanzen hemmen.

Über Gülle in Boden und Wasser

Derzeit gelangen in Deutschland jährlich Tausende Tonnen biologisch aktive Wirkstoffe aus Human- und Tiermedizin über Abwässer, Klärschlamm und Gülle in die Umwelt. Nachdem sie Mensch oder Tier verabreicht wurden, finden sie über die Ausscheidungen ihren Weg in Gewässer und Böden.

In den Kläranlagen werden sie größtenteils nicht herausgefiltert. “Deshalb werden Rückstände von Humanarzneimitteln nahezu flächendeckend und ganzjährig im Bereich von Kläranlagenabläufen sowie in Bächen, Flüssen und Seen, aber auch im Grund- und vereinzelt im Trinkwasser nachgewiesen”, erklärt das UBA. Über Klärschlämme gelangten auch Humanarzneimittel auf und in landwirtschaftlich genutzte Böden – und versickern dort teils bis ins Grundwasser.

Tierarzneimittel aus der Massentierhaltung gelangen ebenfalls auf landwirtschaftliche Flächen, weil die Ausscheidungen der Tiere als Gülle genutzt werden. Bei anderen Haltungsformen hinterlassen die Nutztiere ihre mit Medikamentenrückständen versetzten Ausscheidungen direkt auf den Weiden.

Bewegung statt Chemikalien

Die Wasserrahmenrichtlinie der EU sieht inzwischen eine weitere Reinigungsstufe vor, auch in Deutschland werden immer mehr Klärstufen eingebaut. Sie halten Spurenstoffe etwa durch sogenannte Ozonierung oder Aktivkohlefiltration zurück.

“Viele Wirkstoffe wie Röntgenkontrastmittel rauschen aber auch da einfach so durch”, sagt Maack vom UBA. Diskutiert werden deshalb verschiedene weitere Maßnahmen, etwa eine Umweltverträglichkeits-Ampel als Zusatzinfo für Fachpersonal. “Wirkstoffe wie Diclofenac sollten nicht mehr rezeptfrei abgegeben werden”, nennt Maack eine weitere Möglichkeit.

Medizinisch notwendig seien die Diclofenac-Salben – mit Ausnahme gegen Arthritis – oft nicht, ist Maack überzeugt. “Die Menschen müssten sich viel stärker bewusst machen, was sie mit der Verwendung in die Umwelt bringen.” Experten betonen schon seit Jahren, dass sich die Mentalität in Gesundheitsfragen in Deutschland grundlegend ändern müsse: Mehr Bereitschaft zu eigenem Handeln wie etwa zu einer besseren Ernährungsweise und einem höheren Bewegungspensum sei nötig. “Dass verbreitete Ansicht ist, ein Medikament oder eine Behandlung müsse jede Erkrankung richten und man selbst müsse gar nichts tun, ist Teil des Problems”, sagt Maack.

Mehr Senioren, mehr Medikamente

Dem UBA zufolge sind in Deutschland derzeit rund 2500 verschiedene Wirkstoffe für die Humanmedizin auf dem Markt. Etwa die Hälfte davon sei nach den aktuellen Bewertungskriterien relevant für eine vertiefte Umweltprüfung.

Und das Problem wird an Brisanz gewinnen: Die Generation der Babyboomer erreicht das Rentenalter – und vor allem Senioren nehmen viele Medikamente. Verglichen mit dem Jahr 2015 sei bis 2045 mit einer bis zu 70-prozentigen Steigerung beim Einsatz rezeptpflichtiger Arzneimittel zu rechnen, prognostiziert der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft (BDEW).

Hinzu kämen über 400 Wirkstoffe, die in der Tiermedizin eingesetzt werden. Vor allem Antiparasitika und Antibiotika seien hier relevant, wenn es um negative Auswirkungen auf die Umwelt geht. Im Jahr 2020 wurden 701 Tonnen allein an Antibiotika an Tierärzte abgegeben.

Hartnäckige Chemikalien

Die Mengen vieler Substanzen in der Umwelt summieren sich. “Arzneimittel sind oft sehr stabil verglichen mit anderen Chemikalien”, erklärt Maack. Schließlich seien sie dafür geschaffen, unwirtliche Körpergefilde wie den Magen-Darm-Trakt und Passagen durch Zellwände heil zu überstehen. In der Umwelt würden sie häufig nur sehr schlecht abgebaut und behielten ihre biologische Wirksamkeit lange Zeit.

Bei Neuentwicklungen werde von Pharmafirmen auf noch mehr Haltbarkeit geachtet – zum Beispiel, damit Medikamente nur noch einmal statt zweimal täglich genommen werden müssen, sagt Maack. Die Umweltverträglichkeit werde bei der Entwicklung bisher gar nicht beachtet. Vom Pharma-Unternehmensverband vfa heißt es dazu, dass es nur begrenzt möglich sei, chemisch-synthetische Wirkstoffe von vornherein gut biologisch abbaubar zu entwickeln.

Gefahren unbekannt

Doch konkrete Folgen eindeutig nachzuweisen, ist schwer. Gesicherte Zusammenhänge sind für den Menschen bisher nicht erfasst. Auch beobachtete Phänomene in der Umwelt lassen sich nur selten ursächlich auf einzelne Schadstoffe zurückführen, weil es insgesamt unzählige Schadstoffe und Einflussfaktoren gibt, die typischerweise in einem komplexen Netzwerk zusammenspielen, wie Maack erklärt. Hinzu kämen chronische Effekte und Veränderungen des Erbgutes, denen noch schwerer auf die Spur zu kommen sei.

Selbst im Mineralwasser könnten die Wirkstoffe zum Problem werden. “Das ist nicht unbedingt weniger belastet als Wasser aus dem Hahn”, sagt Maack. Zwar liegen die Konzentrationen meist weit weg von den therapeutisch wirksamen. Die möglichen Langzeitfolgen für den Menschen sowie potenzielle Wechselwirkungen seien aber völlig unklar, gibt Maack zu bedenken. “Wir alle sind dafür die Langzeit-Probanden.”

Gegenmaßnahmen erforderlich

“Ohne Gegenmaßnahmen wird auch der Eintrag von Arzneimittelrückständen in den Wasserkreislauf deutlich zunehmen”, warnt der BDEW. Die Organisation ruft Hersteller dazu auf, Medikamente so zu entwickeln, dass sie biologisch besser abbaubar sind. Zudem sollten sie an den Kosten der Wasserreinigung beteiligt werden.

Der Verband fordert ein flächendeckendes Rücknahmesystem für ungenutzte Medikamente in allen Apotheken. Vom Gesetzgeber verlangt er die Einführung eines einheitlichen Kennzeichnungs- und Informationssystems zur Umweltrelevanz der Medikamente. Tiermedikamente müssten allgemein sparsamer eingesetzt werden.

Aus Sicht des UBA wurden die Risiken von Medikamenten, die in die Umwelt gelangen, bislang unterschätzt. Konventionelle Reinigungstechniken reichten nicht aus, um schädliche Stoffe effektiv aus dem Abwasser zu entfernen. Die Behörde fordert deswegen eine neue Strategie zur Verminderung von Arzneimittel-Rückständen in Gewässern.

Es benötige Maßnahmen “entlang des gesamten Lebenswegs von Arzneimitteln”. “Ein alleiniger Fokus auf End-of-pipe-Lösungen wie die Abwasserreinigung und die Trinkwasseraufbereitung ist nicht zielführend”, mahnt das UBA. Lösungen müssten bereits am Beginn der Kausalkette ansetzen, also bei der Entwicklung der Medikamente.

Es brauche aber auch einen verantwortungsvollen Umgang mit Arzneimitteln. “Angefangen bei einer veränderten und angepassten Verschreibungspraxis durch den behandelnden Arzt über die Förderung einer gesünderen Lebensweise bis hin zu einer sachgerechten Entsorgung von Arzneimittelresten durch Patientinnen und Patienten”, so das UBA. (dpa / hcz)