Moskau: Gesichtserkennung identifiziert Demonstranten
Behörden in Moskau verwenden Gesichtserkennung, um Demonstrierende zu identifizieren und sie von der Teilnahme an weiteren Protesten abzuhalten. Das zeigt eine Recherche der Nachrichtenagentur Reuters. Viele Betroffene wurden demnach präventiv verhaftet und eingeschüchtert.
Reuters konnte Gerichtsakten von über 2000 Verfahren einsehen. Dem Bericht zufolge zeigen diese, dass Überwachungskameras eine wichtige Rolle bei der Verhaftung Hunderter Demonstranten gespielt haben. Die meisten dieser Menschen wurden im Jahr 2021 nach der Teilnahme an regierungskritischen Demonstrationen verhaftet.
Doch seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 nutzten die Behörden Gesichtserkennungstechnologie auch zunehmend, um Menschen von der Teilnahme an Protesten abzuhalten. Nach Angaben der Menschenrechtsgruppe OVD-Info sollen im vergangenen Jahr mindestens 141 Personen in Moskau präventiv verhaftet worden sein, nachdem sie mit der Technik identifiziert wurden. Sie seien an U-Bahn-Haltestellen angehalten worden, beispielsweise an Feiertagen, an denen die Behörden Proteste erwartet hatten.
Daria Korolenko, Anwältin bei der Organisation, erklärte gegenüber Reuters: “Es handelt sich um eine neue Praxis, die vor allem in Moskau, wo die Proteste am größten waren und wo die Menschen wissen, dass sie von Gesichtserkennungskameras beobachtet werden, eine abschreckende Wirkung hat.”
In der U-Bahn festgenommen
Reuters konnte mit 29 Personen sprechen, die von der Polizei in U-Bahn-Stationen aufgehalten wurden: Die Beamten hatten 28 von ihnen erklärt, sie seien vom Gesichtserkennungssystem zur Festnahme gemeldet worden. Laut Reuters handelte es sich unter anderem um Studierende und Rentner. Alle hätten eine kritische Einstellung dem Kreml gegenüber gemein – und die meisten von ihnen hätten zuvor bereits an regierungskritischen Protesten teilgenommen.
Dem Bericht zufolge wurden die Betroffenen bis zu 18 Stunden lang von der Polizei festgehalten. Die Polizei habe den Verhafteten in einigen Fällen erklärt, sie würden festgehalten, um sie von Demonstrationen abzuhalten. Zudem hätten mindestens zwölf Festgenommene vor ihrer Freilassung ein Dokument unterzeichnen müssen: Es habe sich dabei entweder um ein Versprechen gehandelt, nicht zu protestieren, oder um eine Bestätigung, dass sie vor der Teilnahme an Demonstrationen gewarnt wurden.
Andrey Chernyshov beispielsweise sagte gegenüber Reuters, er sei im Mai 2022 auf dem Weg zu einer Anti-Kriegsdemonstration in einer U-Bahn-Station verhaftet und für einige Stunden festgehalten worden. Die Polizei habe ihm erklärt, er sei vom Gesichtserkennungssystem gemeldet worden. Noch am selben Tag sei er erneut verhaftet worden, als er sich mit der U-Bahn auf dem Nachhauseweg befand. Ein Beamter habe ihn gewarnt, an Protesten teilzunehmen und dabei auch sein Kind erwähnt. Chernyshov habe dies als Drohung interpretiert.
Etwa eine Woche zuvor hatte Chernyshov alleine mit einem Plakat gegen den Krieg demonstriert. Auch im weiteren Verlauf des Jahres sei Chernyshov mehrfach in der U-Bahn festgenommen worden – zwei Mal habe ihn die Polizei auch zu Hause aufgesucht und gewarnt.
Auch Luba Krutenko sagte gegenüber Reuters, sie sei mehrfach zu Hause von der Polizei aufgesucht worden, nachdem sie bei Protesten verhaftet wurde. Wenige Monate später wurde auch sie in einer U-Bahn-Station von der Polizei in Gewahrsam genommen – die Beamten erklärten ihr, sie stehe auf einer Fahndungsliste und sei von der Gesichtserkennung identifiziert worden. Letztlich habe sie sich aufgrund der ständigen Überwachung und des Risikos, erneut inhaftiert zu werden, entschieden, Russland zu verlassen.
Reuters berichtet auch von weiteren Fällen, in denen Menschen nach solchen Situationen das Land verlassen hätten.
Überwachte Stadt
In Moskau wird Gesichtserkennung bereits seit dem Jahr 2017 eingesetzt. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hatte im Jahr 2021 von rund 125.000 Kameras mit Gesichtserkennung in Moskau berichtet.
Im Oktober 2021 wurde auch in der Moskauer U-Bahn ein Gesichtserkennungssystem eingeführt – zunächst zum Fahrkartenkauf. Laut Reuters kommt die Technik inzwischen aber auch zu Überwachungszwecken zum Einsatz: Wenn Fahrgäste durch die Zugangsschranken in den Stationen gehen, wird ihr Bild automatisch mit einer Datenbank abgeglichen. Identifiziert das System eine gesuchte Person, reagiere die Polizei sofort.
Kritiker hatten schon bei der Einführung des Bezahlsystems gewarnt, die Daten könnten auch von Sicherheitsbehörden dazu genutzt werden, Demonstranten zu identifizieren. HRW zufolge hatten die Moskauer Behörden bereits in der Vergangenheit bei Demonstrationen für den inhaftierten Kremlkritiker Alexei Nawalny Gesichtserkennung verwendet – identifizierte Teilnehmer seien anschließend verhaftet worden. Seit der russischen Invasion in die Ukraine sei die Technik auch genutzt worden, um Menschen aufzuspüren, die sich einer Einberufung entzogen hätten.
Das in Moskau eingesetzte Gesichtserkennungssystem stammt laut Reuters von drei russischen Firmen sowie einem Unternehmen aus Belarus. Darin sollen auch Chips der US-Unternehmen Nvidia und Intel verbaut sein – Reuters betont aber, es gebe keine Hinweise darauf, dass die Konzerne gegen Sanktionen verstoßen hätten. Beide Firmen hätten ihre Lieferungen eingestellt. Über Drittanbieter sollen Komponenten aber weiter nach Russland gelangt sein. Nvidia erklärte gegenüber Reuters dazu, man stelle Geschäftsbeziehungen zu Partnern in solchen Fällen ein; Intel will die Vorkommnisse untersuchen.
Klara Polackova Van der Ploeg, Leiterin der Arbeitsgruppe für Wirtschaft und Menschenrechte an der Universität Nottingham, erklärte gegenüber Reuters: “Ein angemessenes Verfahren für diese Unternehmen wäre es, zu wissen, wer ihre Geschäftspartner sind. Zu erfahren, wie ihre Produkte eingesetzt werden, und Einfluss zu nehmen, um zu verhindern, dass ihre Technologie für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt wird.” Nach Einschätzung von Anwälten stellt der Einsatz von Gesichtserkennung gegen Aktivisten in Moskau wahrscheinlich eine Menschenrechtsverletzung dar. (js)