Afghanistan: Taliban fügen Bildungssystem "irreversiblen Schaden" zu

Jungen sitzen in einem Klassenraum mit einem Lehrer vor der Tafel
Die körperliche Bestrafung von Kindern verstößt laut HRW gegen internationale Abkommen – aber auch gegen das afghanische Bildungsgesetz. (Archivbild: Jungenschule in Afghanistan) (Quelle: IMAGO / Xinhua)

Das afghanische Bildungssystem befindet sich in einer tiefen Krise, seit die Taliban im August 2021 die Macht übernommen haben. Neben Mädchen leiden auch Jungen darunter, heißt es in einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW). Die Organisation warnt, es könne eine “verlorenen Generation” entstehen.

Die Taliban haben vor allem die Rechte von Frauen drastisch eingeschränkt: So dürfen Mädchen in Afghanistan die Schule ab der siebten Klasse nicht mehr besuchen – obwohl die Taliban dies zunächst versprochen hatten. Belastbare Zahlen zu Schulbesuchen gibt es laut HRW jedoch nicht. Bereits im Jahr 2017 hatte die Organisation berichtet, dass viele Mädchen beispielsweise durch Armut und Vertreibung vom Schulbesuch abgehalten werden. Frauen verwehren die Taliban zudem den Zugang zu Universitäten.

Zwar ist es Jungen nicht untersagt, die Schule auch über die sechste Klasse hinaus zu besuchen. Allerdings habe unter den Radikalislamisten das gesamte Bildungssystem Schaden genommen, berichtet HRW. Dadurch werde der Zugang zu Bildung für alle Kinder und jungen Erwachsenen beeinträchtigt. HRW kritisiert dies als Verstoß gegen die Verpflichtungen Afghanistans nach internationalem Recht, wodurch das Recht aller Kinder auf Bildung garantiert wird.

Sahar Fetrat von HRW konstatierte: “Die Taliban fügen dem afghanischen Bildungssystem sowohl für Jungen als auch für Mädchen irreversiblen Schaden zu. Indem die Taliban das Schulsystem schädigen, riskieren sie eine verlorene Generation zu schaffen, der hochwertige Bildung vorenthalten wird.”

Unqualifizierte Lehrkräfte

Seit September 2021 dürfen die meisten Afghaninnen nicht mehr arbeiten. Laut HRW hatten zu diesem Zeitpunkt bereits viele Lehrerinnen ihren Arbeitsplatz verloren, weil sie an den nun geschlossenen Mädchenschulen angestellt waren. Das Arbeitsverbot habe zusätzlich eine Entlassungswelle an Jungenschulen zur Folge gehabt.

Die Organisation kritisiert, so sei nicht nur Tausenden Lehrerinnen das Recht auf Arbeit verwehrt worden – auch die Ausbildung vieler Schüler wurde erheblich beeinträchtigt. Beispielsweise gebe es einen Mangel an qualifizierten Lehrerinnen. Sie würden nun häufig durch weniger qualifizierte Lehrer ersetzt, die zuvor etwa nur an Grundschulen unterrichtet hätten.

In mehreren Schulen in der Provinz Kabul sei die Situation sogar noch schlimmer: Dort gebe es überhaupt keinen Ersatz, sodass einige Schüler “buchstäblich ohne Lehrer in der Klasse” säßen.

Ein Schüler der zwölften Klasse aus Kabul berichtete gegenüber HRW, an seiner Schule hätten zuvor 16 Lehrerinnen und vier Lehrer in den Klassen zehn bis zwölf unterrichtet. “Unsere Lehrerinnen hatten sich auf die Fächer spezialisiert, die sie unterrichteten: Sie waren Profis. Wir leiden jetzt darunter dass sie fehlen. Und unsere vier männlichen Lehrer sind nach August 2021 aus dem Land geflohen. Derzeit werden wir von Lehrern unterrichtet, die zuvor die Klassen vier und fünf unterrichtet haben.”

Ein anderer Schüler aus der zwölften Klasse berichtete, an seiner Schule würden von 14 Fächern die Hälfte nicht mehr unterrichtet, weil es keine Lehrkräfte gebe. Früher hätten an seiner Schule mehr Frauen als Männer unterrichtet. “Diese Fächer werden nicht einmal von den Taliban gestrichen; sie werden nicht unterrichtet, weil unsere Lehrerinnen entlassen wurden. Deshalb muss ich Privatunterricht außerhalb der Schule nehmen.” Für viele Schüler sei dies aber zu teuer.

Taliban ändern Lehrpläne

HRW berichtet aber auch, dass die Taliban Fächer wie Kunst, Sport und Englisch teils abgeschafft hätten. Insbesondere der Lehrplan an Grundschulen sei von den Taliban geändert worden. Die gestrichenen Fächer würden durch zusätzliche Stunden ersetzt, in denen beispielsweise der Koran studiert werde.

In einem Dokument, dessen Echtheit HRW eigenen Angaben nach jedoch nicht verifizieren konnte, hätten die Taliban eine Überarbeitung des Lehrplans vorgeschlagen. Diese Änderungen ähnelten denen, über die unter anderem afghanische Schüler berichtet hätten.

Der frühere afghanische Lehrplan werde in dem Dokument als “unislamisch” beschrieben. Zudem werde unter anderem vorgeschlagen, Politik und Kunst als Unterrichtsfächer abzuschaffen, weil sie “unnötig” seien.

Schläge und Demütigungen

Dem Bericht zufolge hat auch der Einsatz von sogenannten Körperstrafen an afghanischen Schulen zugenommen. Schüler berichteten demnach, sie würden gedemütigt und geschlagen.

Ein Schüler erzählte: “Ich wurde während der morgendlichen Versammlung vor allen anderen geschlagen und gedemütigt. Einmal, weil ich ein Handy bei mir hatte, und einmal wegen meiner Frisur.” Andere Schüler berichteten von körperlicher Züchtigung, weil sie farbenfrohe Kleidung getragen oder Musik gehört hätten.

Auch unter der früheren Regierung seien Smartphones nicht erlaubt gewesen, so ein Schüler, doch die Konsequenzen seien nun größer. Ein anderer Schüler fügte hinzu: “In der Vergangenheit durften Lehrer Schüler nicht demütigen oder schlagen. Wenn dies doch passierte, hatten Schüler das Recht, sich zu beschweren.”

Human Rights Watch kritisiert, die körperliche Züchtigung von Kindern verletzte ihre Menschenrechte. Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes habe festgestellt, dass Körperstrafen nach internationalem Recht verboten sind und alle Kinder das Recht auf Erziehung in einem gewaltfreien Umfeld haben. Auch die von Afghanistan ratifizierte UN-Kinderrechtskonvention verbiete körperliche und seelische Gewalt. Laut HRW verbietet selbst das afghanische Bildungsgesetz von 2008 ausdrücklich jegliche Form von “physischer oder psychischer Bestrafung” in der Schule.

Laut dem Bericht hat die schlechte Bildungssituation in Verbindung mit der humanitären Krise in Afghanistan auch dazu geführt, dass immer weniger Schüler die Schule besuchen. Die eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten führten etwa zu mangelnder Motivation, wie ein Schüler berichtete. Andere Kinder müssten arbeiten und könnten daher die Schule nicht mehr besuchen – der Druck, ihre Familien zu unterstützen habe bei einigen auch zu psychischen Problem geführt. Auch fehle einigen Familien das Geld für Materialien wie Schulbücher und Hefte.

“Seit dem Sturz der Regierung geht es auch mit unseren Schulen bergab”, berichtete ein Schüler den Menschenrechtlern. “In meiner Schule sind in der Sekundarstufe noch drei oder vier Jungen. Die anderen kommen nicht zur Schule, weil sie arbeiten müssen. Keiner ist mehr motiviert. Die öffentlichen Schulen sind zwar kostenlos, aber das Essen ist es nicht, die Busse nicht, die Hefte, Lehrbücher und unsere Kleidung auch nicht.”

Fetrat erklärte: “Der Einfluss der Taliban auf das Bildungssystem schadet den Kindern heute und wird die Zukunft Afghanistans beeinträchtigen.” Es brauche eine “sofortige und wirksame” internationale Reaktion, um die Bildungskrise zu beseitigen.

HRW fordert, Staaten und UN-Organisationen sollten sich dafür einsetzen, dass die Taliban ihr “diskriminierendes Bildungsverbot für Mädchen und Frauen” aufheben und das Recht auf Bildung von Jungen achten. Dafür müssten alle weiblichen Lehrkräfte wieder beschäftigt werden, körperliche Strafen dürften nicht mehr vollstreckt werden und Lehrpläne müssten im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards reformiert werden. (js)