Amnesty International: Taliban unterdrücken Frauen und Mädchen

Eine Frau trägt eine Burka in den Straßen von Masar-e Scharif in Nordafghanistan.
Die Taliban haben das afghanische Frauenministerium abgeschafft und Hilfsangebote geschlossen. (Quelle: IMAGO / Le Pictorium)

Die Rechte von Frauen und Mädchen in Afghanistan werden seit der Machtübernahme der Taliban immer stärker eingeschränkt. Das geht aus einem am Mittwoch veröffentlichten Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International hervor. Mädchen können demnach keine Schulen besuchen und die Zahl der Kinderehen und Zwangsverheiratungen ist angestiegen. Proteste gegen die Situation unterdrücken die Taliban gewaltsam.

Das Ausmaß der Unterdrückung nehme von Monat zu Monat zu, heißt es in dem Bericht. Knapp ein Jahr nach der Machtübernahme beraubten die Taliban Millionen von Frauen und Mädchen der Möglichkeit, ein sicheres, freies und selbstbestimmtes Leben zu führen. Inzwischen würden sie in fast allen Lebensbereichen systematisch diskriminiert. Eine afghanische Journalistin sagte gegenüber Amnesty International, Frauen in Afghanistan seien zum “Tod in Zeitlupe” verurteilt.

“Jeder Aspekt des täglichen Lebens – ob sie zur Schule gehen können, ob und wie sie arbeiten, ob und wie sie das Haus verlassen dürfen – wird kontrolliert und stark eingeschränkt”, kritisierte Julia Duchrow, stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland.

Festnahmen wegen “sittlicher Verdorbenheit”

Amnesty International berichtet, Frauen dürften Reisen über eine Distanz von mehr als 72 Kilometern nur noch mit männlicher Begleitung unternehmen. Zwar gelte diese Regel nicht für alltägliche Aktivitäten – allerdings werde die Bewegungsfreiheit der Frauen zusätzlich durch weitere Vorgaben eingeschränkt. Denn sie müssen ihr Gesicht in der Öffentlichkeit verhüllen und dürfen das Haus nur verlassen, “wenn es notwendig ist”. Die Taliban hätten auch afghanische Fluggesellschaften angewiesen, Frauen ohne männliche Begleitung an Inlands- und Auslandsflügen zu hindern.

Afghanische Frauen haben der Menschenrechtsorganisation berichtet, jede Bewegung in der Öffentlichkeit ohne männliche Begleitung stelle ein ernsthaftes Risiko für sie dar. Eine im Bericht zitierte Frau verglich die Situation mit einer Quarantäne: “Aber unser ganzes Leben ist in Quarantäne”.

Frauen, die sich ohne Begleiter in der Öffentlichkeit zeigen, würden nicht nur belästigt, sondern auch von Taliban geschlagen. Zudem inhaftieren die Machthaber laut Amnesty zunehmend Frauen, die gegen die Begleiterregel verstoßen – ihnen werde “sittliche Verdorbenheit” vorgeworfen.

Frauenhäuser und andere Hilfsangebote wurden geschlossen. Außerdem seien Tausende inhaftierte Kriminelle freigelassen worden – von denen viele wegen geschlechtsspezifischer Gewalt verurteilt worden waren. Ihre Opfer seien nun in großer Gefahr. Amnesty International hat zudem Berichte erhalten, wonach Frauen, die zuvor in Notunterkünften untergebracht waren, inhaftiert wurden. Die Gefängnisse seien überbelegt und es gebe nicht genug Nahrung und Wasser. Die Frauen seien in den Gefängnissen auch Folter ausgesetzt.

Mädchen können nicht zur Schule gehen

Amnesty kritisiert zudem, den meisten Mädchen im Sekundarschulalter werde weiterhin der Zugang zu Bildung verweigert. Eigentlich sollten weiterführende Schulen für Mädchen in Afghanistan Ende März wieder öffnen – doch die Taliban hatten sie nach nur wenigen Stunden wieder geschlossen. Auch vier Monate später könnten sie ihr Recht auf Bildung weiterhin nicht wahrnehmen, heißt es in dem Bericht.

Studentinnen an Universitäten werden in ihren Verhaltensweisen und Teilnahmemöglichkeiten ebenso wie bei der Kleidungswahl eingeschränkt. So dürfen sie an einigen Universitäten beispielsweise keine Präsentationen halten. An den meisten Universitäten dürften sie zudem nur von Frauen unterrichtet werden und müssten separate Eingänge nutzen.

Eine an der Universität Kabul eingeschriebene Studentin berichtete Amnesty, Wachpersonal schikaniere die Studentinnen. Amnesty kritisiert, Studentinnen würden systematisch benachteiligt und fühlten sich unsicher. Viele Frauen hätten deswegen ihr Studium inzwischen abgebrochen oder entschieden, sich erst gar nicht an einer Universität einzuschreiben.

Die Taliban halten Frauen auch davon ab, zu arbeiten. Dabei gebe es keine landesweit einheitlichen Regeln. Doch die meisten Regierungsmitarbeiterinnen seien angewiesen worden, zu Hause zu bleiben – Ausnahmen gebe es etwa im Gesundheits- und Bildungswesen. In der Privatwirtschaft seien viele Frauen in hochrangigen Positionen entlassen worden. Auch Journalistinnen sind von zahlreichen Einschränkungen betroffen.

Frauen, die weiterhin arbeiten, haben Amnesty von stichprobenartigen Besuchen der Taliban erzählt, die ihre Kleidung und ihr Verhalten kontrollierten. Besonders dramatisch sei die Situation für Familien, deren einzige Erwerbstätigen bisher Frauen waren. Fast alle dieser Haushalte verfügen nach einer Umfrage des Welternährungsprogramms nicht über genügend Nahrungsmittel.

Anstieg von Kinderehen und Zwangsverheiratungen

Amnesty International beklagt außerdem einen Anstieg von Kinderehen sowie Früh- und Zwangsverheiratungen unter der Herrschaft der Taliban. Zu den Ursachen hierfür zählten die wirtschaftliche und humanitäre Krise im Land ebenso wie die fehlenden Bildungs- und Berufschancen für Frauen und Mädchen. Auch familiärer Druck, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Druck von Taliban-Angehörigen auf Frauen und Mädchen, sie zu heiraten, führe zu dem sprunghaften Anstieg.

Für Mädchen, die zur Heirat gezwungen werden, bestehe eine erhöhtes Risiko, die Schule oder Universität abzubrechen, warnen die Menschenrechtler. Außerdem bestehe ein höheres Risiko, dass sie Gewalt von ihren Ehemännern ausgesetzt sind – und keinen Zugang zu reproduktiven Gesundheitsdiensten haben sowie keine eigenen reproduktiven Entscheidungen treffen können. Zudem bestehe ein höheres Risiko, dass sie Opfer von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Zwangsarbeit werden.

Als Reaktion auf die systematische Diskriminierung haben Frauen und Mädchen in Afghanistan wiederholt öffentlich demonstriert. Laut dem Bericht haben die Taliban darauf mit Schikanen, willkürlichen Festnahmen und Inhaftierungen reagiert. Demonstrantinnen seien körperlich und psychisch gefoltert oder verschleppt worden.

Eine Demonstrantin, die für mehrere Tage festgehalten wurde, berichtete Amnesty, die Taliban hätten ihr Fotos ihrer Familie gezeigt – und angedroht, diese umzubringen. Die Kämpfer hätten ihr gesagt: “Nachdem du protestiert hast, hättest du mit Tagen wie diesen rechnen müssen.” Sie berichtete auch von körperlichen Misshandlungen.

Amnesty International gibt auch westlichen Staaten eine Mitschuld an der dramatischen Lage von Frauen in Afghanistan: Im Jahr 2020 hatten die USA und die Taliban einen Friedensvertrag unterzeichnet und den Rückzug der US- und NATO-Truppen vereinbart. Amnesty kritisiert, die Taliban hätten sich nur verpflichten müssen, die Terrororganisation Al-Kaida an der Rückkehr in die von ihnen kontrollierten Gebiete zu hindern und Gespräche mit der damaligen afghanischen Regierung zu führen. Die Rechte von Frauen seien in dem Abkommen hingegen nicht berücksichtigt worden – Frauenrechtlerinnen seien von den Verhandlungen größtenteils ausgeschlossen gewesen.

Vereinte Nationen dokumentieren Menschenrechtsverletzungen

Erst vor gut einer Woche hatte die UN-Mission in Afghanistan (UNAMA) in einem Bericht zahlreiche Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban beklagt. Die Vereinten Nationen haben Fälle von Folter und Misshandlungen dokumentiert, ebenso wie willkürliche Festnahmen und die Tötung ehemaliger Sicherheitskräfte und Regierungsmitarbeiter. In dem Bericht heißt es auch, die Rechte von Frauen seien “drastisch beschnitten” worden. Der UN-Bericht verzeichnet 87 mutmaßliche Fälle von Gewalt gegen Frauen und Mädchen, darunter Mord, Vergewaltigung, Körperverletzung sowie Zwangsheirat und Kinderehe.

Amnesty International fordert die Taliban auf, Maßnahmen zum Schutz der Rechte von Frauen und Mädchen umzusetzen. Regierungen und internationale Organisationen müssten “dringend” eine gemeinsame Strategie erarbeiten und umsetzen, um die Taliban zu solchen Veränderungen zu bewegen. Diese Forderung richte sich insbesondere an alle UN-Mitgliedsstaaten und den UN-Sicherheitsrat. Per Resolution solle dieser gezielte Sanktionen und Reisebeschränkungen gegen die Taliban verhängen.

Die stellvertretende Generalsekretärin von Amnesty Deutschland, Julia Duchrow, warnte: “Die schonungslose Unterdrückung der weiblichen Bevölkerung Afghanistans verschärft sich Tag für Tag. Sollte die internationale Gemeinschaft nichts unternehmen, werden Millionen Frauen und Mädchen in Afghanistan ihrem Schicksal überlassen.” (js)