Brasilien: 66 Angriffe auf Medienschaffende im Amazonasgebiet in einem Jahr
Für Medienschaffende ist die Berichterstattung aus dem brasilianischen Amazonasgebiet schwierig – und gefährlich. Denn sie werden häufig angegriffen und bedroht, heißt es in einem neuen Bericht der Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF). Auch die Infrastruktur in der Region und politische Einflussnahme erschweren unabhängige Berichterstattung.
Der Amazonas-Regenwald spielt eine Schlüsselrolle für das Weltklima und die Artenvielfalt. Doch in den vergangenen Jahren wurde im brasilianischen Amazonasgebiet immer mehr Regenwald vernichtet, unter anderem zur Ressourcengewinnung. Medienschaffende berichten beispielsweise über illegale Aktivitäten im Regenwald und decken diese auf. Um zu verstehen, was im Amazonas geschieht, brauche es verlässliche Informationen direkt von der Quelle, so RSF. Doch die journalistische Arbeit kollidiere mit den wirtschaftlichen Interessen vieler Akteure im Amazonasgebiet.
Daher ist die Arbeit von Medienschaffenden, die über Umweltthemen berichten, laut Bericht gefährlich: Zwischen 30. Juni 2022 und 30. Juni 2023 hat RSF in den neun brasilianischen Amazonas-Bundesstaaten insgesamt 66 Fälle dokumentiert, in denen Medienschaffende beispielsweise an ihrer Arbeit gehindert wurden – durch gewalttätige Angriffe oder Belästigungen. In anderen Fällen wurden Journalisten bedroht oder Redaktionsräume angegriffen.
Drohungen und Verfolgung
16 Fälle hätten in direktem Zusammenhang mit Berichterstattung über die Agrarindustrie, Bergbau, indigene Völker und Menschenrechtsverletzungen gestanden. Ein Drittel der Vorfälle habe sich zudem während der Präsidentschaftswahlen im Jahr 2022 ereignet.
Der freie Journalist Francisco Costa, der über Umweltthemen und Menschenrechte berichtet, erklärte gegenüber RSF: “Es ist unmöglich, aus dem Amazonasgebiet zu berichten, ohne irgendeine Form von Bedrohung, Einschüchterung oder Verfolgung zu erfahren. Als Journalisten haben wir immer eine Zielscheibe auf dem Rücken.”
Ein anderer Journalist erzählte RSF, er sei bereits verfolgt worden. Auch hätten Unbekannte mehrfach die Reifen seines Autos aufgeschlitzt und er habe einen abgetrennten Rinderkopf in seinem Garten vorgefunden. Anderen Medienschaffenden wurde ihre Ausrüstung gestohlen. Der Leiter einer Nachrichtenseite musste aus Sicherheitsgründen sogar die Stadt verlassen.
Angaben von Medienschaffenden zufolge ist die Polizei häufig nicht in der Lage, Angriffe zu verhindern oder aufzuklären.
Ermordeter Journalist
Für weltweites Aufsehen hatte im vergangenen Jahr vor allem der Mord an dem britischen Journalisten Dom Phillips und seinem Begleiter, dem brasilianischen Indigenen-Experten Bruno Pereira, gesorgt. RSF kritisiert, die Ermittlungen in dem Fall seien in erster Linie durch die Arbeit von Pereiras Kollegen vorangeschritten – und nicht durch die Behörden. Auch mehr als ein Jahr nach dem Mord habe der Staat zudem nichts unternommen, um ähnliche Taten künftig zu verhindern.
RSF berichtet zudem von Fällen, in denen Reporter mit juristischen Klagen überzogen wurden, nachdem sie beispielsweise über Landraub berichtet hatten. Wie auch gewalttätige Drohungen hätten solche Klagen teils Selbstzensur zur Folge: Medienschaffende würden mitunter aus Angst verzichten, über bestimmte Themen zu berichten.
Hinzu kommen laut RSF “umfangreiche Verleumdungs- und Desinformationskampagnen”, die von wirtschaftlichen und politischen Akteuren organisiert werden. Damit sollen gezielt Reporter diskreditiert werden, die über indigene Völker und soziale Bewegungen im Amazonasgebiet berichten.
Medienlandschaft unter politischem Einfluss
Die Arbeit von Medienschaffenden vor Ort werde auch durch die Rahmenbedingungen erschwert. So berichtet RSF beispielsweise über einen starken Einfluss von politischen Gruppen und Oligarchen auf lokale Medien: Jeder Fünfte TV-Sender in der Region sei beispielsweise im Besitz von Politikern oder ihren Verwandten. Im Bundesstaat Maranhão, gehören ihnen laut Bericht sogar 81 Prozent der Sender. Viele lokale Medien stünden außerdem unter wirtschaftlichem Druck – weil beispielsweise Werbekunden bei kritischer Berichterstattung keine weiteren Anzeigen buchen. Internationale Medien hingegen könnten ihre Recherchen in der Regel ohne Rücksicht auf lokale Interessenkonflikte finanzieren.
Auch die schiere Größe des Amazonasgebietes stellt Medienschaffende vor Herausforderungen. Alana Manchineri von der brasilianischen Indigenen-Organisation COIAB erklärte: “Kein Journalist hat jemals einen Fuß in Riozinho im Bundesstaat Acre gesetzt. Um von Manaus dorthin zu gelangen, müsste man ein Flugzeug nehmen, sieben Stunden lang fahren und über vier Stunden mit einem Boot unterwegs sein.” Es sei daher teils schwierig für Medienschaffende, für Recherchen in Regionen zu gelangen, in denen beispielsweise illegaler Bergbau stattfindet.
Angesichts der Situation von Medienschaffenden im Amazonasgebiet fordert RSF die brasilianische Regierung auf, die Pressefreiheit zu schützen. Dafür sei es unter anderem notwendig, ein bestehendes Regierungsprogramm zum Schutz von Menschenrechtlern und Medienschaffenden mit mehr personellen und finanziellen Ressourcen auszustatten. Außerdem sollte es beispielsweise in Schulen Unterricht zum Thema Desinformation geben.
Laut RSF ist Brasilien auch insgesamt eines der gefährlichsten Länder Lateinamerikas für Medienschaffende. Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation belegt das Land Platz 92 von 180 Staaten. Auch Umweltaktivismus ist in Brasilien lebensgefährlich: Im vergangenen Jahr wurden dort 34 Aktivistinnen und Aktivisten ermordet – jeder Fünfte von der NGO Global Witness weltweit registrierte Mord an Umweltschützern ereignete sich im Amazonasgebiet. (js)