Desinformationsgesetz: Reporter ohne Grenzen appelliert an türkisches Parlament
In einem gemeinsamen offenen Brief rufen die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen (RSF) und 22 weitere internationale Organisationen die Mitglieder des türkischen Parlaments dazu auf, ein neues Gesetz gegen angebliche Desinformationen abzulehnen. Unter anderem sieht das Gesetz laut RSF bis zu drei Jahre Haft für die vorsätzliche Veröffentlichung von “Desinformationen und gefälschten Nachrichten” vor, die Angst schüren oder die Landessicherheit, die öffentliche Ordnung oder die Gesundheit der türkischen Gesellschaft gefährden.
Die Organisationen befürchten, dass mit dem Gesetz die Zensur im Internet weiter ausgeweitet und der “freie Fluss an Informationen” kriminalisiert wird.
Zu den Unterzeichnern gehören außer RSF unter anderem der Autorenverband PEN, das International Press Institute (IPI) sowie das Committee to Protect Journalists (CPJ). Sie kritisieren, der 40 Artikel umfassende Gesetzentwurf definiere die Begriffe “Desinformation” und “Vorsatz” nur vage. So könnte das Gesetz von der Regierung benutzt werden, um die Veröffentlichung unliebsamer Informationen nach Gutdünken zu bestrafen. Dadurch seien Millionen türkischer Internetnutzerinnen und -nutzer von strafrechtlicher Verfolgung bedroht.
Yaman Akdeniz, Professor für Rechtswissenschaften und Pro-Rektor an der Istanbul Bilgi University, warnte gegenüber der Nachrichtenseite Diken: “Der Hauptzweck dieser Art von Regulierung scheint zu sein, Nutzer sozialer Medien zum Schweigen zu bringen und einzuschüchtern, Nachrichtenseiten und Pressemitglieder zur Selbstzensur zu zwingen und kritische Ansichten zu reduzieren.” Akdeniz wertet den Vorstoß als Vorbereitung der im Juni 2023 anstehenden Präsidenten- und Parlamentswahlen in der Türkei.
Angeblich d’accord mit EU-Recht
Das Gesetz sieht 50 Prozent höhere Strafen für das anonyme Veröffentlichen angeblicher Desinformationen vor. Dadurch werde Anonymität im Internet “erheblich untergraben”, so RSF. Die Organisation befürchtet Einschüchterung von Personen, die auf Korruption und Fehlverhalten aufmerksam machen wollen und deswegen Angst vor Identifizierung haben.
Wie türkische Medien berichten, hatte die Regierungsallianz der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) und der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) den Entwurf am 27. Mai dem Parlament vorgelegt. Nach Angaben von RSF behauptet die Regierungskoalition, der Gesetzentwurf stehe im Einklang mit dem Digital Services Act und der Datenschutzgrundverordnung (DSGVO) der Europäischen Union. RSF widerspricht dieser Darstellung; es gebe in keinem dieser Gesetze solche Bestimmungen.
Im Dezember hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die sozialen Medien als eine der größten Bedrohungen für die Demokratie bezeichnet, berichtet die regierungskritische Nachrichtenseite Ahval. Damals habe er angekündigt, seine Regierung werde die Verbreitung gefälschter Nachrichten und Desinformationen im Internet unter Strafe stellen.
Finanzierung regierungsfreundlicher Presse
“In die Hände der hochgradig politisierten türkischen Justiz gelegt, würde das Gesetz zu einem weiteren Instrument zur Belästigung von Journalisten und Aktivisten werden und könnte zu einer pauschalen Selbstzensur im Internet führen”, warnt Reporter ohne Grenzen.
Der Entwurf sieht auch vor, das Pressegesetz auf Online-Nachrichtenseiten auszuweiten. Hinter dieser Maßnahme vermutet RSF den Versuch, regierungsnahe Nachrichtenseiten mit öffentlichen Geldern zu finanzieren. Denn unter das Pressegesetz gefasste Medien können laut RSF Werbegelder der offiziellen Pressewerbeagentur Basin Ilan Kurumu (BIK) und Zugang zur Presseakkreditierung erhalten. Letztere soll nur an Medienvertreterinnen und -vertreter ausgehändigt werden, die volljährig sind, Abitur (“lise”) abgelegt haben und nicht für den öffentlichen Dienst gesperrt sind.
Medienvertreter, Redakteure, Journalistenverbände oder Gewerkschaften habe die Regierung in der Entwurfsphase des Gesetzes nicht angehört, kritisiert RSF. Dabei seien diese Gruppen am stärksten von der Gesetzgebung betroffen. Freie Meinungsäußerung und unabhängiger Journalismus könnten nur garantiert werden, wenn Initiativen gegen Desinformation in enger Absprache mit den Medienmachern und anderen Interessensgruppen entwickelt würden. Ansonsten könne sie die Regierung “willkürlich” für Zensur missbrauchen.
Defekte Gewaltenteilung
Aktuell liegt der Gesetzentwurf dem Parlament vor. Die Briefautoren zweifeln aber eine gewissenhafte Kontrolle durch die Abgeordneten an. Sie prognostizieren: “Die Rolle des Parlaments wurde durch das Präsidialsystem so stark untergraben, dass der Gesetzentwurf ohne angemessene Prüfung oder Debatte durchgepeitscht wird und voraussichtlich innerhalb weniger Tage in Kraft treten wird.”
Die Unterzeichner rufen die Parlamentarier dazu auf, den Entwurf abzulehnen, wenn sie “an den parlamentarischen Prozess und den freien Fluss von Ideen und Informationen als zentral für eine demokratische Gesellschaft” glauben.
Schon jetzt rangiert die Türkei auf der sogenannten Rangliste der Pressefreiheit von RSF nur auf Platz 149 von 180. RSF beschreibt die Türkei als ein Land, in dem “alle möglichen Mittel eingesetzt werden, um Kritiker zu unterminieren”. (hcz)