EU-Löschanordnungen: Breites Bürgerrechtsbündnis sieht Meinungsfreiheit bedroht

EU-Filter
Was ein EU-Staat als Terror deklariert, könnte zukünftig auch in einem anderen gelöscht werden müssen. (Quelle: IMAGO / Ralph Peters)

Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen sehen in der geplanten EU-Verordnung gegen “die Verbreitung terroristischer Online-Inhalte” (“TERREG-Verordnung”) eine Gefahr für die Demokratie. In einem Brandbrief an das EU-Parlament beschreiben sie ihre Sorge, dass diese die Meinungs- und Redefreiheit, die Privatsphäre, die Rechtsstaatlichkeit und den freien Zugang zu Informationen bedrohe. Regierungen von EU-Staaten könnten ohne richterliche Kontrolle auch bei anderen EU-Mitgliedern Inhalte löschen lassen. So könnten beispielsweise Beweise für Menschenrechtsvergehen verschwinden. Wegen der kurzen Löschfristen würden Plattformbetreiber außerdem zum Einsatz von Upload-Filtern angeregt, die fälschlicherweise auch legale Inhalte löschen könnten.

Zu den Unterzeichnern gehören zahlreiche Menschen- und Bürgerrechtsorganisationen und Journalisten­verbände: Darunter Amnesty International, der Chaos Computer Club (CCC), Digitalcourage, die Digitale Gesellschaft, die Electronic Frontier Foundation (EFF), European Digital Rights (EDRi), Reporter ohne Grenzen, Statewatch und Wikimedia.

Zwar erkennen die Verfasser an, dass einige problematische Punkte im Rahmen von Triloggesprächen zwischen dem Europäischem Parlament und dem Rat der Europäischen Union entschärft wurden. Doch der finale Entwurfstext enthalte weiterhin “gefährliche Maßnahmen, die im Endeffekt den Schutz der Grundrechte in der EU schwächen werden”. Zudem werde ein “Präzedenzfall für die Regulierung von Online-Inhalten weltweit” geschaffen.

Der zuständige “Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres” hatte Mitte Januar für den Entwurf gestimmt, der EU-Ministerrat Mitte März ebenso. Die Zustimmung des EU-Parlaments steht noch aus.

Eine Stunde Zeit

Online-Plattformen wie Facebook, Twitter und YouTube sollen “terroristische Inhalte” in der EU nach Aufforderung von Behörden künftig innerhalb einer Stunde entfernen. Betroffen wären Texte, Bilder, Tonaufnahmen und Videos inklusive Live-Streams, die zu terroristischen Straftaten anstiften. Auch Anleitungen für solche Straftaten und Aufforderungen, sich terroristischen Vereinigungen anzuschließen, fallen darunter. Gelöscht werden müssen außerdem Anleitungen zum Bau von Bomben und Waffen.

Die Verordnung reguliert sämtliche Plattformen, die ihre Dienste in der EU anbieten. Erhalten diese eine Löschanordnung der zuständigen Behörden, sind sie künftig dazu verpflichtet, die Inhalte innerhalb einer Stunde zu löschen oder sperren. Ein Richtervorbehalt ist nicht vorgesehen. Kleine und nicht-kommerzielle Plattformen sind von der 1-Stunden-Frist ausgenommen.

Die Behörden können Löschanordnungen auch an Anbieter versenden, deren Hauptniederlassung sich in einem anderen EU-Staat befindet. Innerhalb von 48 Stunden haben Plattformen die Möglichkeit, eine Prüfung bei der zuständigen Behörde ihres Landes zu beantragen. Diese sollen die Aufforderung blockieren, wenn sie der Ansicht sind, dass sie gegen die Verordnung oder die EU-Grundrechte verstößt. Auch können die Anordnungen gerichtlich angefochten werden.

Wiederbelebung der Upload-Filter

Die Unterzeichner befürchten, dass der in der Verordnung festgelegte Zeitdruck dazu führen wird, dass die Plattformen verstärkt automatisierte Filter zur Inhaltsmoderation und zum Löschen einsetzen werden. Als Beispiel nennt der Brief sogenannte Upload-Filter.

Die “automatisierten Tools” könnten nicht zwischen Parodie, Aktivismus, Dagegenhalten und tatsächlichen terroristischen Inhalten unterscheiden. Die Autoren haben die Sorge, dass auch legale Inhalte wie Nachrichten oder satirische Beiträge automatisiert entfernt werden. Auch Beweise für Kriegsverbrechen und Misshandlung könnten verschwinden.

Bereits die aktuellen Praktiken der Inhaltsmoderation würden große Mengen an Inhalten entfernen, die beispielsweise Gewalt in Kriegsgebieten dokumentieren – und von Überlebenden, Zivilisten oder Journalisten hochgeladen werden. Als Beispiele nennen die Autoren die sogenannten Syrian – und Yemeni Archives, deren Betreiber Beweise für spätere Strafverfolgung von Kriegsverbrechern sammeln. Zudem zeichne sich die Moderationspraxis der Plattformen bereits jetzt “durch einen tiefgreifenden Mangel an Transparenz und Präzision bei der automatisierten Entscheidungs­findung aus”. Der neuen Verordnung fehlten Schutzmaßnahmen, die dies in Zukunft verhinderten. Der Trend würde sich mit der Neuregelung sogar noch verstärken. Upload-Filter wirkten sich außerdem negativ auf das Internet aus, insbesondere im Hinblick auf seine offene Architektur und seine interoperablen Komponenten.

“Übergriffe und Machtmissbrauch”

Die Verordnung sieht vor, dass die zuständigen Behörden Löschanordnungen nicht nur im eigenen Land durchsetzen dürfen, sondern auch dort, wo die Inhalte gehostet werden – solange es sich um einen EU-Mitgliedsstaat handelt. Die juristische Vollstreckungshoheit der Mitgliedsstaaten erweitert sich also über deren Hoheitsgebiet hinaus. Dadurch sehen die Autoren die “justizielle Zusammenarbeit” zwischen den EU-Staaten in Gefahr. Denn diese basiere auf Vertrauen, das wiederum wegen der “schwerwiegenden Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit in bestimmten EU-Mitgliedstaaten” in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.

Schon zum jetzigen Zeitpunkt streiten EU-Staaten darüber, welche Inhalte Terrorismus, Ironie, Kunst oder journalistische Berichterstattung sind. Diese Meinungsverschiedenheiten würden durch die vorgesehenen Verfahren nicht gelöst. Die unterzeichnenden Organisationen befürchten “staatliche Übergriffe und Machtmissbrauch”.

Keine richterliche Kontrolle

Hinzu kommt das Problem fehlender unabhängiger Kontrolle: Denn die Löschanordnungen sollen ohne vorherige gerichtliche Überprüfung erfolgen. Ob diese also Rechte von Personen verletzt, wird im Vorhinein nicht überprüft. Das gilt sowohl für Löschanordnungen im eigenen Land als auch in anderen Mitgliedsstaaten.

Die Mitgliedsstaaten sollen eigene Behörden benennen, die unter anderem die Entfernungsanordnungen ausstellen. Diese sollen objektiv und nicht-diskriminierend handeln. Die unterzeichnenden Organisationen sind aber der Meinung, dass nur Gerichte und unabhängige juristisch kontrollierte Behörden diese Aufgabe wahrnehmen sollten. “Es [das Fehlen einer juristischen Kontrolle] untergräbt auch die Charta der Grundrechte, die die Freiheit Informationen zu erhalten und weiterzugeben sichert und ausdrücklich besagt, dass rechtmäßige Meinungsäußerungen geschützt sind und nur nachträglich, durch ein Gericht und auf legitimen Antrag eingeschränkt werden dürfen”, schreiben sie.

Das EU-Parlament wird in der Plenarsitzung vom 26. bis 29. April endgültig über die Verordnung abstimmen. Die Koalition fordert die Abgeordneten dazu auf, gegen die Verordnung zu stimmen. (hcz)