EU-Parlament stuft Atomkraft und Gas als nachhaltig ein
Trotz massiver Kritik von Umweltschützern im Vorfeld hat das EU-Parlament am Mittwoch die Einstufung von Gas und Atomkraft als nachhaltig gebilligt. Umweltorganisationen werfen der EU “Greenwashing” vor – und wollen klagen.
Damit das Parlament sein Veto gegen den Vorschlag der EU-Kommission einlegt, hätte die absolute Mehrheit von 353 Abgeordneten dagegen stimmen müssen. Doch nur 328 stimmten am Mittwoch gegen den Rechtsakt zur sogenannten Taxonomie – 278 Abgeordnete stimmten dafür, 33 enthielten sich ihrer Stimme.
Erst im Juni hatten sich die Umwelt- und der Wirtschaftsausschüsse im EU-Parlament gegen die Pläne ausgesprochen.
Die Kommission hatte im Februar vorgeschlagen, die beiden Energiequellen in die sogenannte Taxonomie aufzunehmen. Die Taxonomie der EU ist eine Art Kompass für nachhaltige Finanzen. Sie soll Bürger und Anleger dazu bringen, in klimafreundliche Technologien zu investieren, um die Klimaziele zu erreichen.
Konkret sieht der Vorschlag der EU-Kommission vor, dass in Ländern wie Frankreich, Polen und den Niederlanden geplante Investitionen in neue Atomkraftwerke als nachhaltig klassifiziert werden können, wenn die Anlagen neuesten Technik-Standards entsprechen und ein konkreter Plan für eine Entsorgungsanlage für hoch radioaktive Abfälle spätestens 2050 vorgelegt wird. Zudem soll Bedingung sein, dass die neuen Anlagen bis 2045 eine Baugenehmigung erhalten. Bei der Einstufung neuer Gaskraftwerke soll relevant sein, wie viel Treibhausgase ausgestoßen werden und ob sich die Anlagen spätestens 2035 auch mit Wasserstoff oder kohlenstoffarmem Gas betreiben lassen können.
Greenpeace will klagen, DUH prüft rechtliche Schritte
Umweltverbände kritisieren die Entscheidung des EU-Parlaments scharf. Martin Kaiser, geschäftsführender Vorstand von Greenpeace Deutschland, sagte: “Die EU-Kommission degradiert mit dieser Entscheidung den angekündigten Green Deal zum schnöden Greenwashing. Atomkraft und fossiles Gas sind nicht ‘nachhaltig’.” Mit dieser Einstufung widerspreche die EU-Kommission wissenschaftlichen Erkenntnissen ebenso wie den Empfehlungen der eigenen Expertinnen und Experten.
Kaiser kritisierte, die Entscheidung “wirft die Energiewende in Deutschland um Jahre zurück”. Atomkraft produziere Atommüll und berge die Gefahr schwerer Unfälle. Erdgas verursache “extrem klimaschädliche” Methan- und CO2-Emissionen.
Greenpeace will die EU-Kommission nun darauf hinweisen, dass ihr Beschluss gegen Unionsrecht verstößt. Sollte die Kommission den Beschluss daraufhin nicht ändern oder zurückziehen, werde die Organisation vor dem Europäischen Gerichtshof dagegen klagen.
Auch die Deutsche Umwelthilfe (DUH) hat angekündigt, rechtliche Schritte zu prüfen.
“Die EU-Abgeordneten lassen das Vorzeigeprojekt EU-Taxonomie mit ihrem Votum zu einem grünen Feigenblatt für Atomkraft und fossiles Gas verkommen”, kritisierte der DUH-Bundesgeschäftsführer Sascha Müller-Kraenner. “Die Öffnung der Taxonomie für fossiles Gas und Atomkraft ist angesichts des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine besonders verantwortungslos, denn sie zementiert die Abhängigkeit von Energieimporten und macht unsere Energieversorgung unsicherer. Anstatt die Klimakrise mit neuen Gaskraftwerken weiter zu befeuern, müssen wir jetzt mehr denn je in Erneuerbare Energien investieren.”
“Schwarzer Tag für den Klimaschutz”
Die Klimaschutzbewegung Fridays for Future kommentierte, Milliarden Euro würden nun in neue Gasinfrastruktur und Atomkraftwerke fließen, statt in den dringend nötigen Ausbau von Wind- und Solarenergie. Sich inmitten einer eskalierenden Klimakrise und rasant ansteigenden Energiepreisen für eine Weiterführung und Stärkung ihrer Verursacher zu entscheiden, sei absurd.
Olaf Bandt, Vorsitzender des BUND, sagte, es sei ein “schwarzer Tag für den Klimaschutz und die Demokratie in Europa”. Er kritisierte: “Das Europäische Parlament hat mit deutlicher Mehrheit die Interessen der Atom- und Erdgaslobby über die Wissenschaft und die Belange des Klimaschutzes gestellt. Fossiles Gas und Atomkraft haben in einer Taxonomie für nachhaltige Investments nichts zu suchen. Damit sorgt die EU selbst in der Finanzwirtschaft für Kopfschütteln, denn die legt für ihre eigenen Öko-Labels strengere Maßstäbe an.”
Auch der SPD-Europaabgeordnete Joachim Schuster sagte: “Diese Entscheidung ist ein Rückschlag für den Klima- und Umweltschutz in Europa.” Der Grünen-Politiker Michael Bloss kommentierte: “Heute ist ein trauriger Tag für die europäische Energiewende, für ein nachhaltiges Gütesiegel für die Finanzbranche und für ein Ende der Energieabhängigkeit von Russland.”
Der BUND und Fridays For Future forderten die Bundesregierung auf, gegen die Taxonomie zu klagen. Regierungssprecher Steffen Hebestreit erklärte jedoch, die Bundesregierung wolle nicht klagen. Die Bundesregierung bleibe aber bei ihrer Position und betrachte Atomkraft nicht als nachhaltig.
Österreich und Luxemburg wollen klagen
Österreich hingegen hatte bereits zuvor eine Klage angekündigt. Die österreichische Umweltministerin Leonore Gewessler (Grüne) schrieb auf Twitter, die Entscheidung zur Taxonomie-Verordnung sei weder glaubwürdig, noch wissensbasiert und gefährde “unsere Zukunft”. Österreich werde nun weitere Verbündete für eine Nichtigkeitsklage suchen. Diese sei bereits vorbereitet und Luxemburg werde sich daran beteiligen.
Die Umsetzung des Kommissionsvorschlags kann noch verhindert werden, wenn sich bis zum 11. Juli mindestens 20 EU-Staaten zusammenschließen, die mindestens 65 Prozent der Gesamtbevölkerung der EU vertreten. Dass eine entsprechende Mehrheit im Rat der EU zustande kommt, gilt allerdings wegen des Interesses von vielen Staaten an der Nutzung von Atomkraft als ausgeschlossen. Der Rechtsakt würde dann am 1. Januar 2023 in Kraft treten. (dpa / js)