Gletscher schmelzen schneller als angenommen

Thwaites-Gletscher
“Was wir sehen, war stärker als alles, was wir bislang für möglich gehalten haben.” (Quelle: NASA – gemeinfrei)

Der Klimawandel zehrt an den Gletschern: In den vergangenen Wochen und Monaten meldeten Experten aus Bayern, Tirol, der Schweiz – und der Antarktis – Eisschmelzen im Rekordtempo. Viele der Eisberge wird es bereits in wenigen Jahren nicht mehr geben.

“Was wir sehen, war stärker als alles, was wir bislang für möglich gehalten haben”, sagte beispielsweise der schweizerische Glaziologe Matthias Huss. In der Schweiz sind nun Eisschichten geschmolzen, die dort teils seit über 7000 Jahren lagen, die deutschen Gletscher werden in spätestens 20 Jahren nicht mehr existieren und einer der größten Gletscher Tirols verlor in diesem Sommer so viel Masse wie noch nie seit Beginn der Aufzeichnungen.

Die außergewöhnlich schnelle Gletscherschmelze ist in allen Fällen auf die globale Erderwärmung zurückzuführen. “Es handelt sich um eindeutige Signale des menschengemachten Klimawandels”, erklärte der Gletscherforscher Rainer Prinz von der Universität Innsbruck vergangene Woche. “Die Folgen unserer Treibhausgasemissionen treffen uns bereits heute voll.”

Jüngst bestätigte auch das EU-Erdbeobachtungsprogramm Copernicus, dass es sich bei dem Sommer 2022 um den wärmsten seit Aufzeichnungsbeginn gehandelt hat. In den Alpen ist der klimabedingte Temperaturanstieg mit rund 2 Grad Celsius nahezu doppelt so hoch wie im globalen Durchschnittswert.

Die schwerste Gletscher-Katastrophe bahnt sich wohl gerade in der Antarktis an: Mit dem Thwaites-Gletscher droht ein gigantischer Gletscher in der Antarktis schneller abzuschmelzen als bisher angenommen – was zu einem dramatischen Anstieg des Meeresspiegels führen könnte. Auswirkungen hätte das auf Küstenregionen auf der ganzen Welt.

1 Meter Meereswasseranstieg droht

Der Thwaites-Gletscher liegt im westlichen Teil der Antarktis und ist mit 192.000 Quadratkilometern Ausdehnung etwa so groß wie der US-Bundesstaat Florida. In den letzten 50 Jahren stiegen die mittleren Jahrestemperaturen an der westlich gelegenen Antarktischen Halbinsel um 2,6 Grad Celsius. Wegen seiner globalen Bedeutung wird der Thwaites auch “Weltuntergangs-Gletscher” (doomsday glacier) genannt. Ein internationales Forscherteam hat nun den Rückzug des Eisriesen kartiert und die Ergebnisse im Fachjournal Nature Geoscience veröffentlicht.

Wegen warmer Meeresströmungen schmilzt der Gigant entlang seiner Unterwasserkante und könnte sich in den kommenden Jahren schnell zurückbilden. Das könnte “erschreckende” Auswirkungen haben, hieß es in einer Mitteilung zu der Studie: Ein vollständiger Verlust des Gletschers und des umliegenden Eises könnte einen Meeresspiegel-Anstieg um 90 Zentimeter bis zu 3 Meter zur Folge haben. Küstenstädte auf der ganzen Welt könnten teilweise überflutet werden. Denn aktuell hindert der Thwaites zusammen mit dem Pine-Island-Gletscher das westantarktische Eisschild daran, ins Meer abzufließen.

Keine deutschen Gletscher mehr

Auch die deutschen Gletscher schmelzen weiter: Im Juli meldeten Glaziologen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, dass 2022 eines der Jahre mit dem höchsten Eisverlust seit Beginn der Beobachtungen im Jahr 1964 werden wird.

Beispielsweise ist das Eis des Blaueisgletschers, des Schneeferners auf der Zugspitze sowie des Höllentalferners in diesem Jahr erneut deutlich zurückgegangen. Der Gletscher auf der Zugspitze schmelze alle 30 Sekunden um fast 250 Liter Wasser ab.

Neben der Hitze hat den deutschen Gletschern in diesem Jahr auch Saharastaub zugesetzt. Er hatte sich im März als rötliche Schicht auf Skipisten und Gletschern abgelagert. Weil dunklere Flächen mehr Energie des Sonnenlichts absorbieren, beschleunigte das die Schmelze.

Von den fünf deutschen Gletschern ist der südliche Schneeferner am schlimmsten vom Abtauen betroffen, so die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Schon im nächsten Jahr könnte er ganz verschwinden. “Vielleicht hält er sich auch noch zwei oder drei Jahre. Aber das ist sicher der Kandidat, der als erster verschwinden wird”, erklärte Glaziologe Christoph Mayer.

Noch am besten halte sich der Höllentalferner – zuletzt 16,7 Hektar groß. Er liegt in einer tiefen Mulde und wird regelmäßig durch Lawinen gespeist. Doch auch ihm geben die Wissenschaftler nur 15 bis 20 Jahre Zeit, bis er gänzlich abgeschmolzen sein wird. Die anderen vier Gletscher in Deutschland werden schon zuvor verschwunden sein. Bisher ging die Wissenschaft noch davon aus, dass dies erst gegen Mitte des Jahrhunderts der Fall sein wird.

Österreich: Hintereisferner schmilzt auf die Hälfte

In Tirol schmilzt der seit Jahrzehnten unter wissenschaftlicher Beobachtung stehende Gletscher Hintereisferner aktuell so schnell wie nie. Laut Daten der Universität Innsbruck hat der Gletscher im Ötztal in diesem Jahr fünf Prozent seines Gesamtvolumens verloren. “Das entspricht knapp 20 Millionen Kubikmetern Wasser, etwa so viel wie die Stadt Innsbruck in 20 Monaten an Trinkwasser verbraucht”, erklärte Rainer Prinz vom Institut für Atmosphären- und Kryosphärenwissenschaften vergangenen Freitag.

In den Wintermonaten hätten sich auf der Fläche nur zwei statt üblicherweise drei Meter Schnee angesammelt – und im Sommer seien in dem Gebiet die zweithöchsten je gemessenen Temperaturen verzeichnet worden. Die Forscher gehen davon aus, dass vom Hintereisferner in 10 bis 20 Jahren nur noch die Hälfte übrig sein werde. Noch bedeckt der Gletscher eine Fläche von knapp sieben Quadratkilometern und ist damit einer der größten in Tirol. In Österreich gibt es insgesamt rund 900 Gletscher.

Nichts mehr zum Messen am Corvatsch

Am Corvatsch-Gletscher in der Südostschweiz seien in diesem Sommer Eisschichten geschmolzen, die dort teils seit rund 7000 Jahren lagen, sagte der Leiter des Schweizer Gletschermessnetzes Glamos an der ETH Zürich gegenüber dpa. Ein Messprojekt am Corvatsch könne nun nicht mehr weitergeführt werden, weil an den Messstellen schlicht das Eis fehle. “Es bleibt uns deshalb nur noch, alles Material einzusammeln und abzuräumen.”

Glaziologen haben im Rahmen von Glamos seit Jahrzehnten Gletscher in Bezug auf Schneemenge im Winter und Schneeschmelze im Sommer vermessen. Schon 2019 sei entschieden worden, die Messprogramme an drei kleineren Gletschern auslaufen zu lassen: Pizolgletscher, Vadret dal Corvatsch und Schwarzbachfirn. Weil die Verlustraten aber besonders im vergangenen Jahr geringer ausfielen als in den Jahren davor, hätte man gehofft, doch noch eine Weile Messungen durchführen zu können. “Die Verluste diesen Sommer waren nun aber zu schlimm”, stellte Huss fest. Aus technischen Gründen könne der weitere Eisverlust nicht mehr vermessen werden.

Mit dem Schmelzen des Eises habe sich auch die Landschaft dramatisch verändert. Das vorher schon dünne Eis verschwinde an vielen Stellen. Am Corvatsch sei ein Eisgrat mit dem Jahrtausende alten Eis fast ganz verschwunden.

Volumen der Schweizer Gletscher halbiert

Die Schweiz hat zwischen 1931 und 2016 knapp die Hälfte ihres Gletschereises verloren. Das haben Forschende der ETH Zürich und der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) anhand alter Fotos und Daten dokumentiert. Sie veröffentlichten ihre Forschungsergebnisse Ende August im Fachmagazin The Cryosphere. Seit 2016 habe sich der Eisschwund noch beschleunigt, berichtete die ETH. Demnach sei das Eisvolumen der Gletscher in den vergangenen sechs Jahren um weitere zwölf Prozent geschrumpft.

Nicht alle Gletscher waren gleichermaßen betroffen. “Wie stark sich das Volumen verringert hat, hängt im Wesentlichen von drei Faktoren ab: Erstens, auf welcher Höhe sich die Gletscher befinden. Zweitens, wie flach die Gletscherzunge ausläuft und drittens, wie stark die Gletscher mit Schutt bedeckt sind”, berichtete die ETH.

Neue Gefahren durch fehlendes Eis

Der Deutsche Alpenverein (DAV) wies am Mittwoch darauf hin, dass durch den Klimawandel – und speziell die Gletscherschmelze – zusätzliche Gefahren speziell im Hochgebirge entstehen. Mit dem Abtauen von Gletschern und Permafrost, der wie ein Kleber das Gestein in der Höhe zusammenhält, steige die Gefahr von Fels- und Eisstürzen, warnte Lorenz Berker von der DAV-Sicherheitsforschung.

Als Beispiel nannte der Verein den massiven Felssturz an der Marmolata in den Dolomiten im Juli mit elf Toten. Das Unglück habe Bergsportler wie auch Klimaforscher aufgeschreckt. Aus dem Gletscher war eine ganze Schicht herausgebrochen. Manche Hütten etwa am Mont Blanc seien dieses Jahr wegen Steinschlag- und Felssturzgefahr geschlossen geblieben. Es sei im Hochgebirge künftig häufiger mit solchen Folgen des Klimawandels zu rechnen. (dpa / hcz)