Human Rights Watch: Indische Netzsperren treffen besonders arme Menschen

Plakat einer Servicestelle in einem indischen Dorf
Servicestellen in Dörfern (Bild) helfen unter anderem bei Bankgeschäften – sind aber auf eine Internetverbindung angewiesen. Beim Verhängen von Internetsperren ignorieren Behörden laut Bericht Vorgaben des Obersten Gerichtshofs. (Quelle: Jayshree Bajoria/Human Rights Watch)

Weltweit hat kein anderes Land in den vergangenen Jahren so oft das Internet sperren lassen, wie Indien. Gleichzeitig wird der Netzzugang dort im Alltag immer wichtiger – etwa, um existenzsichernde staatliche Leistungen in Anspruch zu nehmen. Ein neuer Bericht von Human Rights Watch (HRW) und der indischen Internet Freedom Foundation zeigt nun, welche Auswirkungen die Blockaden insbesondere auf ärmere Bevölkerungsteile haben.

Laut dem NGO-Bericht ist der Zugang zum Internet in Indien gerade in ländlichen Gebieten essentiell, um Essensrationen oder Sozialleistungen erhalten zu können. Laavanya Tamang, Forscherin bei der Organisation LibTech India, erklärte: “Alle staatlichen Programme sind jetzt vom Internet abhängig, sodass man ohne Internet keinen Zugang mehr dazu hat. Sogar für den Erhalt von Lebensmittelrationen ist eine biometrische Authentifizierung erforderlich.”

Die NGOs berichten, seit dem Jahr 2015 werde die Kampagne “Digital India” vorangetrieben, um staatliche Dienstleistungen zu digitalisieren. Premierminister Narendra Modi hatte damals vorgegeben: “Digitale Konnektivität sollte genauso ein Grundrecht werden wie der Zugang zu einer Schule.” Die Initiativen der Regierung würden jedoch durch Netzabschaltungen gefährdet, so HRW.

Menschenrechte werden eingeschränkt

HRW kritisiert, auch die Meinungsfreiheit werde durch Internetsperren eingeschränkt. Mit der fortschreitenden Digitalisierung werde der Zugang zum Internet auch immer wichtiger für die Verwirklichung der Rechte auf soziale Sicherheit, Bildung, Gesundheit, Arbeit und das Recht auf Nahrung.

HRW führt als Beispiel den “Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act” (NREGA) an. Dieses Gesetz soll das Recht auf Arbeit garantieren und bietet laut Bericht mehr als 100 Millionen Haushalten in ländlichen Gebieten ein sicheres Einkommen, indem ihnen eine Beschäftigung für 100 Tage pro Jahr garantiert wird.

Die Beschäftigten erhalten für ihre Arbeit je nach Bundesstaat einen Lohn von umgerechnet etwa 2,30 Euro bis 3,74 Euro pro Tag. Laut HRW ist der Zugang zu diesem Programm angesichts von fehlenden Arbeitsplätzen in ländlichen Gebieten “von entscheidender Bedeutung”. Im vergangenen Jahr hätten zu 58 Prozent Frauen an dem Programm teilgenommen – von denen die Mehrheit aus finanziell schwachen Haushalten kam.

Frauen arbeiten in einem Dorf
Frauen arbeiten auf einer Baustelle in Rajasthan im Rahmen des “Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Act”. (Quelle: Jayshree Bajoria/Human Rights Watch)

Sowohl die Anwesenheitskontrolle als auch die Lohnzahlungen seien jedoch inzwischen digitalisiert worden, heißt es im Bericht. So müssten die Arbeiterinnen und Arbeiter seit Januar 2023 zweimal täglich ein Foto von sich über eine spezielle Anwesenheits-App hochladen, wobei auch der Standort übertragen werde. HRW kritisiert, dies werfe datenschutzrechtliche Bedenken auf. Durch den Einsatz der App hänge der Lebensunterhalt der Betroffenen aber zusätzlich von den oft unzuverlässigen Internetverbindungen ab.

Ohne Internet kein Geld

Mehrere NREGA-Beschäftigte berichteten HRW, dass sie ohne die Anwesenheitsregistrierung in der App nicht bezahlt würden. Eine 29-jährige Frau sagte: “Wir reisen weit, um zu unseren Arbeitsplätzen zu gelangen. Aber wenn das Internet nicht funktioniert, müssen wir nach Hause zurückkehren. Ganze Familien sind auf NREGA angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Wie sollen wir unsere Kinder ernähren?”

Eine 35-jährige Frau, die ebenfalls am Programm teilnimmt, berichtete: “Während einer Internetsperre werde ich nicht bezahlt, kann kein Geld von meinem Konto abheben und nicht einmal Lebensmittelrationen erhalten.”

Ein anderes Beispiel ist das öffentliche Verteilsystem, über das die indische Regierung subventionierte Lebensmittelrationen bereitstellt. Seit dem Jahr 2017 müssen berechtigte Personen ihre Rationskarte mit Aadhaar verknüpfen – dem biometrischen Identifikationssystem des Landes. Vor Abgabe der monatlichen Rationen würden Fingerabdrücke elektronisch abgeglichen. Die dafür benötigten Geräte greifen über Mobilfunk auf das Internet zu – ohne eine Verbindung könnten die Rationen nicht verteilt werden.

Gerät zum Abgleich biometrischer Daten
Bevor Betroffene ihre Lebensmittelrationen erhalten, werden Fingerabdrücke mit speziellen Lesegeräten online abgeglichen. (Quelle: Jayshree Bajoria/Human Rights Watch)

Wenn die Behörden das Internet blockieren, wird laut Bericht auch die Arbeit der staatlichen Servicestellen eingeschränkt, die sich in vielen Dörfern befinden und ebenfalls über Mobilfunk angebunden sind. Sie sollen Menschen in ländlichen Gebieten eigentlich bei der Inanspruchnahme digitaler Dienste unterstützen – dort können beispielsweise Rechnungen bezahlt und amtliche Dokumente beantragt werden.

Mobiles Netz 550 Tage lang gesperrt

Internetabschaltungen sind in Indien häufig: HRW berichtet über 127 Netzsperren zwischen Januar 2020 und Dezember 2022. Betroffen sind 18 von 28 Bundesstaaten. In über 40 Prozent der Fälle hätten die Behörden zu dem Mittel als Reaktion auf Proteste gegriffen – oder um diese zu verhindern. Das Internet werde aber auch bei Schulprüfungen gesperrt, um Betrug zu verhindern oder bei gewalttätigen Konflikten zwischen Ethnien. Die zugrundeliegenden Gesetze kritisiert HRW als “zu weit gefasst”.

Jayshree Bajoria, stellvertretende Asien-Direktorin bei HRW, kritisierte: “Den Internetzugang einzuschränken sollte das allerletzte Mittel sein und es muss Sicherheitsvorkehrungen geben, damit die Menschen nicht ihrer Lebensgrundlage und ihrer Grundrechte beraubt werden.”

In der Erhebung sind Netzsperren im umstrittenen Unionsterritorium Jammu und Kaschmir nicht enthalten. Dort würde das Internet häufiger als an jedem anderen Ort des Landes abgeschaltet, heißt es im Bericht. Zwischen August 2019 und Februar 2021 hatten die Behörden den Internetzugang via Mobilfunk sogar für 550 Tage am Stück abgeschaltet. Das habe auch gravierende Auswirkungen auf das Bildungssystem und Gewerbetreibende gehabt, weil Kinder während der Schulschließungen bedingt durch Covid-19 nicht an Online-Unterricht teilnehmen konnten und Geschäfte weder Onlinehandel betreiben noch Online-Bezahlsysteme nutzen konnten. Die regionale Industrie- und Handelskammer schätzt, fast 500.000 Menschen hätten während dieser Zeit ihren Arbeitsplatz verloren.

Auch der Oberste Gerichtshof des Landes hatte die Einschränkungen in dem Unionsterritorium überprüft. In einem Urteil, das HRW als “bahnbrechend” bezeichnet, hatten die Richter im Januar 2020 erklärt, es handle sich um eine “drastische Maßnahme”, die vom Staat nur in Betracht gezogen werden dürfe, wenn sie “notwendig” und “unvermeidbar” sei. Zuvor müssten auch Alternativen geprüft werden.

Zusätzlich hätten die Richter Verfahrensgarantien festgelegt. Demnach müssen Behörden etwa ihre Anordnungen für Internetsperren stets veröffentlichen und die Einschränkungen dürften nicht unbefristet erlassen werden. Allerdings kritisiert Human Rights Watch, dass sich nicht alle Bundesstaaten an diese Vorgaben halten.

Mobiles Netz am wichtigsten

In der Regel würden die Behörden das mobile Internet einschränken, was einem Totalausfall gleichkomme: Denn 96 Prozent der Bevölkerung gehe über mobile Endgeräte online – nur 4 Prozent hätten Zugang zu einem Festnetzanschluss. In ländlichen Gebieten sei die Bedeutung des Mobilfunknetzes sogar noch höher, weil Festnetzzugänge fast ausschließlich in Städten installiert sind.

Human Rights Watch erinnert daran, dass der Zugang zum Internet weithin als Voraussetzung für eine Vielzahl von Menschenrechten anerkannt sei, die im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte und anderen Menschenrechtsabkommen garantiert sind – denen auch Indien beigetreten ist.

Die Netzsperren stünden auch im Widerspruch zu einer Erklärung, in der sich Indien im Juni 2022 gemeinsam mit den G7-Staaten dazu verpflichtet hat, ein “offenes, freies, globales, interoperables, zuverlässiges und sicheres Internet” zu gewährleisten.

Zudem verweist die Organisation auf eine Resolution des UN-Menschenrechtsrats, in der Internetsperren verurteilt und Staaten aufgefordert wurden, “von solchen Maßnahmen Abstand zu nehmen”.

Human Rights Watch und die Internet Freedom Foundation fordern von der indischen Regierung, auf willkürliche und unbefristete Internetsperren zu verzichten. Wenn dieses Mittel gewählt werde, müsse es rechtmäßig, notwendig, verhältnismäßig und im Umfang begrenzt sein – internationales Recht müsse eingehalten werden. Anordnungen müssten vollständig veröffentlicht werden.

Die NGOs fordern außerdem eine Überarbeitung der Rechtsgrundlagen unter Einbindung der Zivilgesellschaft. Außerdem sollte eine nationale Datenbank erstellt werden, die öffentlich zugänglich ist und alle angeordneten Blockaden inklusive der Gründe dafür, der Dauer und der angewandten Rechtsvorschriften enthält.

Apar Gupta von der Internet Freedom Foundation mahnte: “Die indische Regierung sollte aufhören, mit der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung zu argumentieren und sich stattdessen drauf konzentrieren, wie Netzsperren das gesamte Leben der Menschen beeinträchtigen und in einigen Fällen irreversible Schäden verursacht haben.” (js)