Iran: Mindestens 251 Hinrichtungen seit Jahresbeginn
Im ersten Halbjahr 2022 wurden im Iran bereits mindestens 251 Menschen hingerichtet. Das haben Recherchen von Amnesty International und dem Abdorrahman-Boroumand-Zentrum für Menschenrechte im Iran ergeben. Im Durchschnitt wurde demnach mindestens eine Person pro Tag getötet.
Die meisten der im Iran seit Jahresbeginn hingerichteten Menschen (146 Personen) seien wegen Mordes zum Tode verurteilt worden. Weitere 86 Todesurteile seien wegen Drogendelikten vollstreckt worden. Amnesty International kritisiert, dass dieses Vergehen laut Völkerrecht nicht mit der Todesstrafe geahndet werden darf.
Zudem sei gut dokumentiert, dass der Iran “systematisch” Menschen exekutieren lässt, die in unfairen Gerichtsverfahren verurteilt wurden. Routinemäßig würden durch Folter erzwungene Geständnisse als Beweismittel verwendet.
Weil die iranischen Behörden Zahlen zu verhängten und vollstreckten Todesurteilen geheim hielten, geht Amnesty International von einer hohen Dunkelziffer aus. Die von den beiden Organisationen erhobenen Daten beruhen unter anderem auf Angaben von Gefangenen, Verwandten von Hingerichteten, Menschenrechtlern und Medienschaffenden.
“Im ersten Halbjahr 2022 ließen die iranischen Behörden im Durchschnitt mindestens eine Person pro Tag hinrichten. Die Staatsmaschinerie führt im ganzen Land massenhaft Tötungen durch und tritt dabei das Recht auf Leben mit Füßen. Die haarsträubende Hinrichtungsrate, die wir im ersten Halbjahr im Iran beobachtet haben, erinnert auf horrende Weise an 2015, als die Zahl der Exekutionen ebenfalls emporschnellte”, sagte Diana Eltahawy, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.
Massenhinrichtungen
Amnesty und das Abdorrahman-Boroumand-Zentrum warnen, dass die Zahl der vollstreckten Todesurteile in diesem Jahr die des Vorjahres noch übertreffen könnte. Damals hatte Amnesty International 314 Hinrichtungen dokumentiert – die höchste im Iran registrierte Zahl seit 2017. Diesen Anstieg hatte Amnesty International auch damit erklärt, dass der Iran wieder vermehrt wegen Drogendelikten Verurteilte hingerichtet hatte.
Laut den Recherchen führen die iranischen Behörden seit Beginn des Jahres 2022 auch regelmäßig Massenhinrichtungen durch. So wurden beispielsweise am 15. Juni mindestens zwölf Menschen im Raja’i-Shahr-Gefängnis in der nördlichen Provinz Alborz getötet. In dieser Haftanstalt sitzen laut Amnesty International sehr viele Gefangene im Todestrakt. Seit Beginn des Jahres seien dort durchschnittlich jede Woche fünf Menschen exekutiert worden.
Eine von Amnesty befragte Person berichtete, der oberste Richter des Landes habe in den vergangenen Monaten wiederholt angedeutet, die Überbelegung in den Gefängnissen müsse dringend bewältigt werden. Dies lasse befürchten, dass der Anstieg der Hinrichtungen mit Bemühungen der Behörden zusammenhänge, überfüllte Gefängnisse zu entlasten. Bereits in der Vergangenheit hatte das Abdorrahman-Boroumand-Zentrum eine Zunahme von Exekutionen beobachtet, wenn die Behörden erklärt hatten, sie wollten die Gefangenenzahlen verringern.
In diesem Jahr habe es zudem eine öffentliche Hinrichtung gegeben. Auch dies kritisiert Amnesty International als Verstoß gegen internationales Recht.
Minderheit der Belutschen betroffen
Bei mindestens 65 (26 Prozent) der in diesem Jahr getöteten Menschen handelte es sich um Angehörige der belutschischen Minderheit. Laut Amnesty International machen sie nur etwa 5 Prozent der iranischen Bevölkerung aus und leben häufig am Existenzminimum. Mehr als die Hälfte von ihnen wurde wegen Drogendelikten exekutiert.
“Die unverhältnismäßige Anwendung der Todesstrafe gegen die Minderheit der Belutschen im Iran ist Ausdruck der tief verwurzelten Diskriminierung und Unterdrückung, der sie seit Jahrzehnten ausgesetzt sind, und unterstreicht die inhärente Grausamkeit der Todesstrafe, die sich gegen die schwächsten Bevölkerungsgruppen im Iran und weltweit richtet”, kritisierte Roya Boroumand, Geschäftsführerin des Abdorrahman-Boroumand-Zentrums.
Von der Todesstrafe im Iran ist auch der Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd bedroht. Der in den USA lebende Dissident sei im Jahr 2020 aus Dubai in den Iran entführt und dort willkürlich verhaftet worden. In einem von Amnesty als unfair kritisierten Prozess könnte er in den kommenden Tagen wegen “Verdorbenheit auf Erden” zum Tode verurteilt werden.
Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation wird die Todesstrafe im Iran bei zahlreichen Straftaten angewendet, beispielsweise bei Finanzdelikten, Vergewaltigung und bewaffneten Raubüberfällen. Aber auch völkerrechtlich geschützte Aktivitäten wie einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen und außereheliche sexuelle Beziehungen würden mit der Todesstrafe geahndet. Vage formulierte Straftatbestände wie “Feindschaft zu Gott” können ebenfalls Todesurteile nach sich ziehen.
Der UN-Sonderberichterstatter zur Lage der Menschenrechte im Iran hatte im vergangenen Jahr kritisiert, im Iran gebe es vage und willkürliche Gründe für die Verhängung der Todesstrafe, wodurch diese schnell zu einem politischen Instrument werden könne. Auch strukturelle Mängel des Justizsystems hatte er beklagt und festgestellt: “Die tief verwurzelten Mängel im Gesetz und in der Anwendung der Todesstrafe im Iran bedeuten, dass die meisten, wenn nicht alle Hinrichtungen ein willkürlicher Entzug des Rechts auf Lebens sind.”
Amnesty International und das Abdorrahman-Boroumand-Zentrum fordern von der internationalen Gemeinschaft, “auf höchster Ebene” einzuschreiten und den Iran aufzufordern, die Todesstrafe nicht mehr länger auf Drogendelikte anzuwenden. Den Iran fordern die Organisationen auf, als ersten Schritt zur Abschaffung der Todesstrafe umgehend ein Hinrichtungsmoratorium zu verhängen.
In 144 Ländern ist die Todesstrafe mittlerweile per Gesetz oder Praxis außer Vollzug gesetzt. (js)