Nahost und Nordafrika: Online-Verfolgung wegen sexueller Orientierung

Grindr-App vor einer Regenbogenflagge
Auch organisierte Banden erschleichen sich online das Vertrauen von LGBT-Personen, um diese anschließend zu erpressen. (Quelle: IMAGO / ZUMA Wire)

Behörden im Nahen Osten und in Nordafrika nehmen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender-Personen (LGBT) aufgrund ihrer Online-Aktivitäten ins Visier. Das geht aus einem neuen Bericht der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) hervor. Sicherheitskräfte stellen demnach Fallen in sozialen Medien und Dating-Apps und durchsuchen Mobiltelefone, um Betroffene strafrechtlich zu verfolgen. Die Organisation kritisiert, dieses Vorgehen verletze das Recht auf Privatsphäre und andere Menschenrechte.

Die Organisation hat für ihren Bericht “All This Terror Because of a Photo” digitale Angriffe in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien untersucht. HRW hat dafür mit lokalen Organisationen zusammengearbeitet und zwischen Februar 2021 und Januar 2022 Interviews mit 90 betroffenen Personen sowie 30 Expertinnen und Experten geführt, darunter Anwälte und Fachleute für digitale Rechte.

Laut Human Rights Watch sind Online-Plattformen im Nahen Osten und Nordafrika (MENA-Region) für sexuelle Minderheiten besonders wichtig, um sich zu vernetzen, ihre Rechte zu stärken und auf Diskriminierung aufmerksam zu machen. Doch die Behörden in den fünf Ländern hätten ihr bisheriges Vorgehen gegen LGBT-Personen, etwa durch Verhaftungen und Razzien, inzwischen um digitale Methoden ergänzt.

Rasha Younes, Expertin bei HRW, erklärte: “Die Behörden in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien nutzen Technologien, um LGBT-Personen verfolgen. Während digitale Plattformen der LGBT-Community als Sprachrohr dienen, sind sie gleichzeitig zu Werkzeugen für staatliche Repression geworden.”

Polizei statt Date

HRW hat beispielsweise 20 Fälle dokumentiert, in denen Sicherheitskräfte in Ägypten, Irak und Jordanien gefälschte Profile auf Facebook und in der Dating-App Grindr erstellt haben, um Kontakt mit marginalisierten Menschen aufzunehmen.

Ein schwuler Mann aus Ägypten berichtete: “Ich habe mit einem Mann auf Grindr gechattet, während ich im Café saß. Wir vereinbarten, uns dort zu treffen.” Doch statt der Verabredung seien fünf Polizisten aufgetaucht und hätten ihn verhaftet. Die Polizisten hätten gedroht, ihn umzubringen, sollte er sein Telefon nicht entsperren und durchsuchen lassen. Die auf seinem Telefon gefundenen Fotos seien dann verwendet worden, um eine Anklage wegen “Unzucht” gegen ihn zu formulieren.

Die Menschenrechtsorganisation hat auch willkürliche Verhaftungen von 45 Personen aus der LGBT-Community in Ägypten, Jordanien, Libanon und Tunesien dokumentiert. In allen Fällen hätten Sicherheitskräfte die Telefone der Betroffenen durchsucht. Um an die privaten Informationen auf den Geräten zu gelangen, hätten die Beamten Gewalt angedroht oder sogar angewendet. Die gesammelten Daten seien dann für Anklagen verwendet worden.

In einigen Fällen hätten Polizisten sogar die auf den Telefonen gespeicherten Inhalte manipuliert, um angebliche Beweise zu erhalten. Dafür installierten sie etwa Dating-Apps wie Grindr oder speicherten selbst Fotos auf den Geräten.

Eine Transgender-Frau aus Jordanien berichtete: “Die Polizei durchsuchte all unsere Telefone. Sie begannen sich gegenseitig Nachrichten von den Telefonen zu schicken, dann machten sie Screenshots von den Chats.”

Gewalt im Gefängnis

Festgenommene Menschen berichteten HRW von zahlreichen Verstößen gegen ihr Recht auf ein ordnungsgemäßes Verfahren. Dazu zählt die Beschlagnahmung ihrer Mobiltelefone, aber auch die Verweigerung des Zugangs zu einem Anwalt. Außerdem seien Geständnisse erzwungen worden. Teils wurde Betroffenen Nahrung und Wasser vorenthalten oder sie wurden verbal und körperlich angegriffen. Verhaftete Personen seien während der Ermittlungen bis zu drei Monate festgehalten worden.

HRW hat zudem 23 Gerichtsakten von Personen überprüft, die in Ägypten, Jordanien, Libanon und Tunesien aufgrund von digitalen Informationen angeklagt wurden – im Rahmen von Gesetzen zur Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen oder auch wegen “Unzucht”, “Prostitution” oder Computerkriminalität. Die meisten von ihnen seien freigesprochen worden, nachdem sie in Berufung gegangen waren. Fünf Personen wurden jedoch in der Folge zu Haftstrafen zwischen einem und drei Jahren verurteilt.

In Ägypten, Irak und Jordanien stünden gleichgeschlechtliche Beziehungen zwar nicht ausdrücklich unter Strafe – es würden aber beispielsweise Moral- oder Prostitutionsgesetze angewendet, um Menschen strafrechtlich zu verfolgen. Im Libanon sei Geschlechtsverkehr “entgegen der natürlichen Ordnung” strafbar. Dieses Gesetz werde angewendet, um einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zu kriminalisieren, obwohl bereits mehrere Gerichte entschieden hätten, dass Homosexualität nicht “unnatürlich” ist.

Die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung sei hingegen in keinem der fünf im Bericht betrachteten Länder verboten.

Online-Erpressungen

Laut dem Bericht werden Angehörige sexueller Minderheiten zudem online durch Strafverfolger belästigt. Auch komme es zu sogenanntem Doxing: Dabei werden persönliche Daten veröffentlicht – unter anderem, um Menschen gegen ihren Willen zu identifizieren. Teils sei auch die sexuelle Orientierung öffentlich gemacht worden, Betroffene wurden also gegen ihren Willen geoutet.

HRW hat beispielsweise Fälle in Tunesien dokumentiert, bei denen die persönlichen Daten von an Protesten beteiligten LGBT-Aktivisten veröffentlicht wurden – inklusive ihrer Adresse und Telefonnummer. Anschließend hätten die Betroffenen unter anderem Morddrohungen erhalten. Einige hätten außerdem ihre Arbeit verloren, waren Gewalt in der Familie ausgesetzt oder gezwungen, ihren Wohnsitz und ihre Telefonnummer zu ändern. Betroffene berichteten HRW auch, sie hätten sich gezwungen gesehen, aus dem Land zu fliehen.

Zwar hätten die Betroffenen entsprechende Beiträge an die Plattformen gemeldet, auf denen sie veröffentlicht wurden – gelöscht worden seien diese jedoch nicht.

Auch Privatpersonen würden Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung online ins Visier nehmen. Dafür würden beispielsweise gefälschte Profile in Dating-Apps oder den sozialen Medien genutzt, um sich das Vertrauen der Betroffenen zu erschleichen – und sie anschließend zu erpressen. Hinter solchen Erpressungsversuchen steckten beispielsweise organisierte Banden aus Ägypten und bewaffnete Gruppen aus dem Irak.

Konsequenzen haben die Erpresser offenbar nicht zu befürchten: HRW berichtet von Betroffenen, die solche Fälle bei der Polizei zur Anzeige bringen wollten – dort aber selbst verhaftet wurden.

“Missbräuchliches Verhalten gegenüber LGBT-Personen im Internet hat Folgen in der realen Welt, die sich durch ihr gesamtes Leben ziehen – und die ihren Job, ihre psychische Gesundheit und ihre Sicherheit beeinträchtigen können”, erklärte Rasha Younes.

Alle von HRW befragten Personen erklärten, sie würden in Folge der digitalen Angriffe Selbstzensur üben. Sie berichteten außerdem von psychischen Folgen wie ständiger Angst oder Depressionen.

Untersucht wurden Fälle in Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien, laut HRW kommt es aber auch in anderen Ländern in Nordafrika und dem Nahen Osten immer wieder zu ähnlichen Vorfällen. So habe es etwa in Marokko und Saudi-Arabien Kampagnen gegeben, bei denen die persönlichen Daten von LGBT-Personen in sozialen Medien verbreitet wurden.

Auch Strafverfolger in Saudi-Arabien hätten gefälschte Profile in Dating-Apps genutzt, um Menschen Fallen zu stellen. Im Iran sollen Personen verhaftet worden sein, weil sie LGBT-Apps auf ihrem Smartphone installiert hatten.

HRW fordert Schutz von LGBT-Rechten

Human Rights Watch kritisiert, Online-Plattformen wie Facebook und Grindr würden nicht genug unternehmen, um durch digitale Angriffe gefährdete Nutzerinnen und Nutzer zu schützen. Die Organisation erinnert daran, dass die Plattformen durch die Leitprinzipien der Vereinten Nationen für Wirtschaft und Menschenrechte verpflichtet sind, die Menschenrechte zu achten.

HRW fordert auch die Regierungen von Ägypten, Irak, Jordanien, Libanon und Tunesien auf, die Rechte von LGBT-Personen zu achten und zu schützen, anstatt ihre Äußerungen zu kriminalisieren und sie online ins Visier zu nehmen. Dazu seien sie durch internationale und regionale Menschenrechtsverträge verpflichtet. Es müssten daher Gesetze eingeführt und durchgesetzt werden, die Menschen vor Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und Geschlechtsidentität schützen – auch im Internet. (js)