Neue WHO-Grenzwerte: Luft in Deutschland ist gesundheitsgefährdend
Die EU und Deutschland halten sich aktuell nicht an die Grenzwerte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Luftschadstoffe. Aufgrund neuer Erkenntnisse verschärft die WHO ihre Empfehlungen nun sogar noch. Die Stickoxidkonzentration beispielsweise soll in dichtbesiedelten Gegenden nur 10 Mikrogramm pro Kubikmeter betragen statt ehemals 40; den Grenzwert für Feinstaub (PM 2,5) senkt die WHO von 10 auf 5 Mikrogramm. Europa ist damit unter Zugzwang.
Denn schlechte Luft schadet der Gesundheit stärker als lange angenommen, und die bestehenden Grenzwerte für Schadstoffbelastungen sind nach Angaben der WHO zu lasch. Luftverschmutzung sei neben dem Klimawandel eine der größten umweltbezogenen Bedrohungen für die menschliche Gesundheit. Deshalb hat die WHO ihre Richtwerte für die maximale, gesundheitlich noch vertretbare Belastung deutlich verschärft. Luftverschmutzung sei neben dem Klimawandel eine der größten umweltbezogenen Bedrohungen für die menschliche Gesundheit.
Die neuen Richtwerte seien niedriger als erwartet und das Ziel, sie zu erreichen, sei ehrgeizig, meinte Tamara Schikowski vom Leibniz-Institut für umweltmedizinische Forschung an der Universität Düsseldorf (IUF). Die WHO passt die Richtwerte erstmals seit 2005 an, weil Studien gezeigt haben, wie stark die Gesundheit unter Luftverschmutzung leidet. Eine Überschreitung der neuen Grenzwerte sei mit erheblichen Gesundheitsrisiken verbunden.
Deutschland wird es schwer haben
Jedes Jahr sterben nach WHO-Schätzungen weltweit sieben Millionen Menschen frühzeitig infolge von Luftverschmutzung. In der EU liegt der Wert bei etwa 400.000 Toten. Millionen Menschen würden gesunde Lebensjahre geraubt. Bei Kindern könne das Wachstum der Lungen gestört werden und es könnten verstärkt Asthma-Symptome auftreten. Bei Erwachsenen könne Luftverschmutzung Herzkrankheiten und Schlaganfälle begünstigen. Damit bewege sich die durch Luftverschmutzung bedingte Krankheitslast inzwischen auf dem Niveau anderer wichtiger globaler Gesundheitsrisiken wie ungesunde Ernährung und Rauchen.
Die Belastung mit Stickstoffdioxid, die in Ballungsräumen vor allem von Diesel-Autos stammt, soll statt höchstens 40 künftig nur noch 10 Mikrogramm pro Kubikmeter betragen. Die EU erlaubt zurzeit 40. Selbst diese Grenze wurde in Deutschland 2019 aber noch verletzt, wie die EU-Umweltagentur EEA in Kopenhagen berichtet. “Insbesondere die jährlichen Konzentrationen für NO2 sind überraschend niedrig und es wird schwer sein, diese niedrigen Werte auch in Deutschland zu erreichen”, meinte Schikowski.
Feinstaub: EU folgt nicht der WHO
Feinstaub, der in die Lunge und den Blutkreislauf eindringen kann, sei von besonderer Bedeutung, so die WHO. Er entsteht etwa durch Verbrennungsprozesse im Verkehr, in der Energiewirtschaft, Haushalten, in der Landwirtschaft und auf Mülldeponien. Sehr hoch sei die Belastung in Südostasien und im östlichen Mittelmeerraum.
Bei Feinstaub liegen die EU-Richtwerte deutlich höher als die WHO-Empfehlungen von 2005. Der EU-Grenzwert für Feinstaub mit Partikelgröße 2,5 Mikrometer (PM 2,5) liegt bei 25 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft. Die WHO empfahl bislang 10 – und senkte diese Zahl nun auf 5 Mikrogramm. Bei Feinstaub mit der Partikelgröße 10 Mikrometer erlaubt die EU sogar 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, während die WHO den Richtwert von 20 auf 15 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft senkt.
Schon die Anwendung des alten WHO-Richtwerts bei Feinstaub (PM 2,5) hätte bedeutet, dass in der EU drei Viertel der Stadtbewohner höheren Feinstaubbelastungen ausgesetzt sind als gesundheitlich vertretbar. Weltweit ist die Lage noch schlimmer: 2019 lebte mehr als 90 Prozent der Weltbevölkerung nach WHO-Angaben in Gebieten, die die WHO-Grenzwerte für Feinstaub (PM 2,5) von 2005 überschritten. Die EU will ihre Luftqualitätsnormen im kommenden Jahr anpassen.
Hierzulande schlechte Luftqualität
Nach Angaben des Umweltbundesamtes in Dessau ermittelten 2020 im Jahresmittel 83 Prozent aller Messstationen in Deutschland einen Stickstoffdioxid-Wert, der oberhalb des neuen WHO-Grenzwertes lag. Beim Feinstaub der Partikelgröße PM10 waren es demnach 36 Prozent, bei PM 2,5 ganze 99 Prozent.
Bundesumweltministerin Svenja Schulze sagte, die Luftqualität sei in Deutschland zwar in den vergangenen Jahren besser geworden. “Dennoch bleibt noch viel zu tun.” Verbesserungen bei Feinstaub würden in den nächsten Jahren vor allem durch den Kohleausstieg (bislang 2038), den Umstieg auf eine weniger intensive Landwirtschaft und die Verkehrswende hin zu mehr Elektromobilität erreicht.
Der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) begrüßte die Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO). “Die aktualisierten Empfehlungen für Grenzwerte zu Luftschadstoffen durch die WHO waren nach gut 15 Jahren überfällig. Die deutlich verschärften Grenzwertempfehlungen zeigen, dass schnelles und entschiedenes Handeln dringend notwendig ist”, kommentierte Antje von Broock, BUND-Geschäftsführerin. Ein Großteil der Luftverschmutzung in Städten entstünde durch Fahrzeuge mit Verbrennungsmotoren. Deswegen fordert der BUND “eine deutliche Reduzierung des Autoverkehrs und die Umsetzung von Maßnahmen für eine nachhaltige Mobilitätswende”. Der öffentliche Straßenraum müsse neu verteilt werden mit Vorrang für den Fuß-, Rad- und öffentlichen Verkehr.
Die Deutsche Umwelthilfe fordert auf Basis der WHO-Grenzwerte “einschneidende Sofortmaßnahmen in Verkehr, Energiewirtschaft und Massentierhaltung” von Bundesregierung und Ländern. Die WHO-Werte müssten in nationales Recht umgesetzt werden. DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch teilte mit: “Die neuen WHO-Werte sind eine schallende Ohrfeige für Bundesregierung und Verkehrsminister Scheuer, der noch vor zwei Jahren sogar die laxen alten NO2-Grenzwerte abschaffen wollte.”
Auch Greenpeace Deutschland sieht dringenden Handlungsbedarf und schreibt: “Dieser Report ist ein weiteres Alarmsignal, dass wir viel schneller weg müssen von schmutzigen fossilen Energien. Wer Kohle, Gas und Öl verbrennt, schadet nicht nur dem Klima, sondern gefährdet auch die Gesundheit von Millionen Menschen.” Statt weiter zu versuchen, Kohlekraftwerke oder Verbrennungsmotoren weniger dreckig zu machen, müsse der Kohleausstieg und eine Mobilitätswende schneller kommen.
Bessere Luft rechnet sich auch finanziell
“Die neuen Air Quality Guidelines der WHO sind ein großer Schritt nach vorne, da sie Richtwerte vorgeben, die in der Lage sind, die Gesundheit der Bevölkerung wirkungsvoll zu schützen”, lobte die Leiterin des Instituts für Epidemiologie am Helmholtz Zentrum München, Annette Peters. “Alle diese Werte sind aus neuen großen Studien abgeleitet.”
Klar sei, dass es keine “ungefährliche Luftverschmutzung” gibt, sagte dagegen Barbara Hoffmann, vom Institut für Arbeits-, Sozial- und Umweltmedizin der Universität Düsseldorf. “Daraus leitet sich ab, dass die Luftverschmutzung überall verringert werden muss – auch dort, wo sie schon relativ niedrig ist. Das lohnt sich auch finanziell, denn die Krankheitskosten, die durch Luftverschmutzung entstehen, sind höher als die Kosten für Luftreinhaltung.”
Die WHO-Leitlinien enthalten auch Empfehlungen für Ozon (O3), Schwefeldioxid (SO2) und Kohlenmonoxid (CO). Sie sind nicht verbindlich, sondern gelten als Richtschnur für Länder und Staatenverbünde wie die EU. “Luftverschmutzung trifft am stärksten die Menschen in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen”, sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus. (dpa / hcz)