Recherche: "Klimaneutrales Erdgas" ist Verbrauchertäuschung

Gasfackel
Mehr als 10 Millionen Tonnen CO2 mehr sollen in die Atmosphäre gelangt sein, als von den Gasversorgern angegeben.(Quelle: IMAGO / Funke Foto Services)

Zahlreiche Erdgasversorger sollen beim Verkauf von angeblich klimaneutralem Erdgas auf zweifelhafte Ausgleichsmaßnahmen gesetzt haben. Dies berichtete am Dienstag das Recherchenetzwerk Correctiv. Hunderttausende Kundinnen und Kunden seien getäuscht worden, hieß es.

In Kooperation mit Wissenschaftlern habe man die CO2-Gutschriften und Kompensationsaktivitäten von 150 deutschen Gasversorgern und kommunalen Stadtwerken zwischen 2011 und 2024 geprüft. Das Fazit: 116 Gasversorger hätten CO2-Gutschriften aus Klimaschutzprojekten genutzt, die eine tatsächliche Verringerung oder Einsparung von Emissionen nicht plausibel hätten nachweisen können.

Projekte, aus denen die Zertifikate stammen, sollen beispielsweise weniger Emissionen einsparen als angegeben – oder weniger Waldfläche schützen. Einige Projekte wären den Recherchen zufolge auch zustande gekommen, wenn keine Zertifikate verkauft worden wären.

Betroffen seien rund zwei Drittel der insgesamt 16 Millionen ausgewerteten Gutschriften. Nach den Berechnungen von Correctiv könnten somit über die Jahre insgesamt gut 10 Millionen Tonnen weniger CO2-Emissionen ausgeglichen worden sein als von den Versorgern gegenüber Kunden behauptet. Zur Einordnung: 2023 wurden laut Umweltbundesamt in Deutschland insgesamt Treibhausgase freigesetzt, die der Menge von 674 Millionen Tonnen Kohlendioxid entsprechen.

Biologin und Kompensationsexpertin Jutta Kill sprach gegenüber Correctiv sogar davon, dass es auf dem Markt kaum ein Kompensationsprojekt gebe, das seine CO2-Reduzierung “plausibel” nachweisen kann. Untersuchungen der ETH Zürich und der Universität Cambridge hätten ergeben, dass nur 12 Prozent der angebotenen Zertifikate zu einer "echten Emissionsreduzierung“ führen.

98 Prozent der fragwürdigen CO2-Zertifikate wurden laut Correctiv von dem weltweit größten Anbieter Verra ausgegeben. Über diesen war im März 2023 bekannt geworden, dass ein Großteil seiner Zertifikate wertlos waren und tatsächlich kaum Treibhausgasemissionen ausglichen.

Gaskraftwerke für den Klimaschutz

Unter den von Verra zertifizierten Projekten finden sich teils absurde Projekte. So verkauft der Anbieter beispielsweise Kompensationszertifikate, die von Gaskraftwerken aus Indien, China und Singapur stammten. Diese fossilen Kraftwerke würden offiziell als Klimaschutzprojekte gelistet, die Zertifikate tauchten in den Kompensationsportfolios von acht deutschen Gasversorgern auf. Insgesamt würden fast 10 Prozent der beanstandeten CO2-Zertifikate aus Gaskraftwerken stammen.

In einem weiteren Beispiel habe der indische Energiekonzern JSW Energy über ein Wasserkraftwerk Zertifikate für angeblich über 35 Millionen Tonnen eingespartes CO2 erzeugt. Zu den Käufern hätten auch Gasversorger in Deutschland gehört. Wissenschaftler der Universität Heidelberg hätten aber bereits 2011 festgestellt, dass dass dem Wasserwerk die sogenannte Zusätzlichkeit fehle, die jedes Klimaschutzprojekt standardmäßig auf dem Kompensationsmarkt nachweisen muss.

Zudem sei der Bau des Staudamms nicht ohne Folgen für die ansässige Bevölkerung geblieben: Correctiv berichtet von Wassermangel, versiegten Quellen sowie zerstörten Häusern und verlorenen Landwirtschaftsflächen.

Zwar habe Verra die Regeln für neue Wasserkraftprojekte mittlerweile angepasst. Doch bleibe es allen Projekten, die vor der Regeländerung bei dem Zertifizierer registriert wurden, weiterhin erlaubt, Zertifikate zu verkaufen.

Weitere Kritik äußert Correctiv an Verra-zertifizierten Waldschutzprojekten, deren Zertifikate ebenfalls Gasversorger in Deutschland gekauft hatten. Diese seien nach wissenschaftlichen Standards nicht zur Kompensation geeignet und es sei nicht plausibel nachweisbar, dass sie Emissionen eingespart hätten.

Auf diese Weise würde der Markt für CO2-Kompensationen mit billigen Zertifikaten geflutet, die keinen Klimaschutz mit sich bringen, so der Bericht. Eine Studie des New Climate Institute habe ergeben, dass der Überfluss an billigen Kohlenstoffgutschriften, die schon ab zwei US-Dollar pro Tonne zu bekommen seien, Firmen davon abhalte, ehrgeizige Emissionsminderungen im eigenen Betrieb umzusetzen.

So schadeten die Zertifikate sogar dem Klimaschutz, schreibt Correctiv. Schuld daran seien auch Zertifizierer wie Verra und Gold Standard, die Regeln aufstellen, die solche “Schrottzertifikate” überhaupt erst erlaubten.

DUH mahnt ab

Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) forderte im Zusammenhang mit der Correctiv-Recherche deutschlandweit 15 Gasversorger dazu auf, ihre Werbung für klimaneutrales Erdgas zu beenden und entsprechende Unterlassungserklärungen zu unterzeichnen. Der Verband warf den Unternehmen Verbrauchertäuschung vor.

Die zum Ausgleich herangezogenen Projekte seien in allen Fällen untauglich, um die versprochene Klimaneutralität herzustellen. “Die Projekte laufen, sofern zur Kompensation Waldprojekte verwendet werden, nicht ansatzweise so lange, wie für die Gewährleistung einer Klimaneutralität erforderlich”, teilte die DUH in einer Stellungnahme vom Montag mit. CO2 verbleibe für mehrere Jahrhunderte in der Atmosphäre, während für Bäume in Projektgebieten nicht garantiert werden könne, dass sie über solch langen Zeitraum erhalten bleiben. Zudem erhielten die Verbraucherinnen und Verbraucher nicht genügend Informationen zu den Projekten; es fehle an Transparenz.

“Sie [die Gasversorger] informieren zumeist nicht darüber, ob alle Emissionen, die die angebotenen Erdgas-Tarife betreffen, kompensiert werden und stellen auch nicht klar, ob die zusätzlichen Emissionen, die während der Förderung, dem Transport und der Lagerung von Erdgas entweichen, ebenfalls erfasst werden oder nicht”, kritisierte DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch. Hier entweiche vor allem Methan, das 25-mal klimaschädlicher wirkt als CO2.

Eine Liste der 15 abgemahnten Gasversorgern hat die DUH online gestellt. Reaktionen der Unternehmen stehen noch aus. (dpa / hcz)