Russland: Demonstrant rechtswidrig mit Gesichtserkennung identifiziert

Moskauer U-Bahn-Station
Mehr als 200.000 Überwachungskameras in Moskau sollen mit Gesichtserkennungssoftware ausgestattet sein. (Quelle: IMAGO/Pond5)

Der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie in der Moskauer U-Bahn zur Identifizierung eines Demonstranten hat dessen Rechte verletzt. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag entschieden.

Das Gericht erklärte, der Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie sei in diesem Fall mit den “Idealen und Werten einer demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft unvereinbar” gewesen. Das Gericht stellte Verstöße gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebenen Rechte auf freie Meinungsäußerung und Achtung des Privatlebens fest.

Russland war bis 2022 Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention, sodass der Gerichtshof noch für Fälle zuständig ist, die in diese Zeit fielen.

Nach Protest verhaftet

Der Kläger, Nikolay Sergeyevich Glukhin, war im August 2019 mit der Moskauer U-Bahn gefahren und trug eine lebensgroße Pappfigur des Regierungskritikers Konstantin Kotow bei sich. An dieser war ein Schild mit der Aufschrift “Mir drohen bis zu fünf Jahre … für friedliche Proteste” befestigt. Kotow war nach der Teilnahme an Demonstrationen im Sommer 2019 inhaftiert worden.

Laut Gericht hatte die Polizei Fotos und ein Video von Glukhins Aktion in den sozialen Medien gefunden – wenige Tage später wurde er in der U-Bahn verhaftet und zu einer Geldstrafe von etwa 283 Euro verurteilt, weil er seinen Protest nicht angemeldet hatte. Die Polizei habe gegenüber Glukhin erklärt, er sei mithilfe von Gesichtserkennung identifiziert worden. In dem Verfahren gegen ihn in Russland seien die Beiträge aus den sozialen Medien und Aufnahmen von Überwachungskameras als Beweismittel gegen ihn verwendet worden.

Das Urteil wurde in einem Berufungsverfahren im Oktober 2019 bestätigt. Glukhin hatte sich daraufhin an den EGMR gewandt.

Verstoß gegen Europäische Menschenrechtskonvention

Der Gerichtshof stellte nun fest, dass durch den Einsatz von Gesichtserkennungstechnologie zur Identifizierung und späteren Verhaftung in das Recht auf Achtung des Privatlebens des Betroffenen eingegriffen wurde. Der Eingriff sei besonders schwerwiegend, weil es sich um eine friedliche Protestaktion gehandelt habe.

Die russische Polizei müsse den Einsatz von Gesichtserkennung nicht dokumentieren und Betroffene würden nicht darüber informiert. Deshalb sei es für den Kläger schwierig gewesen, den Einsatz in seinem Fall zu beweisen. Nach Ansicht der Richterinnen und Richter gibt es jedoch keine andere Erklärung dafür, dass die Polizei ihn so schnell nach seinem Protest identifizieren konnte – außerdem hätten die Regierungsvertreter den Einsatz auch nicht bestritten. Zudem gebe es zahlreiche weitere Fälle, in denen Demonstranten in Russland mit Gesichtserkennung identifiziert wurden.

Laut EGMR wurden zwischen 2017 und 2022 mehr als 220.000 mit Echtzeit-Gesichtserkennung ausgestattete Kameras in Moskau installiert, unter anderem in der U-Bahn.

Außerdem sei durch die Verurteilung auch das Recht auf friedliche Meinungsäußerung des Betroffenen verletzt worden.

“Bahnbrechendes” Urteil

Russland soll dem Kläger nun 9800 Euro Entschädigung zahlen sowie zusätzlich 6400 Euro für entstandene Kosten und Auslagen.

Die Menschenrechtsorganisation Article 19, die vor dem EGMR eine Stellungnahme abgegeben hatte, nannte das Urteil “bahnbrechend”. Barbora Bukovská von Article 19 kommentierte: “Der Einsatz von Gesichtserkennung und anderen biometrischen Technologien stellt eine der größten Bedrohungen der Grundrechte im digitalen Zeitalter dar. Diese Technologien stellen eine Bedrohung für das Recht auf Privatsphäre und Anonymität dar und haben eine starke ‘abschreckende Wirkung’ auf das Recht auf freie Meinungsäußerung.”

Der EGMR mit Sitz im französischen Straßburg ist eine Institution des Europarats und keine Einrichtung der Europäischen Union. Das Gericht sorgt für die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention – für die Vertragsstaaten sind seine Urteile rechtlich bindend.

Nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine wurde Russland allerdings aus dem Europarat ausgeschlossen – seit dem 16. September 2022 ist das Land keine Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention mehr. Der Gerichtshof ist aber weiterhin für Fälle zuständig, die vor diesem Datum eingereicht wurden. Allerdings hatte das russische Parlament bereits zuvor Gesetze erlassen, wonach die russischen Behörden die Urteile des EGMR nicht befolgen müssen. Nach Angaben des EGMR hatte Russland im September 2022 noch mehr als 2000 ergangene Urteile nicht umgesetzt.

Mehrere Tausend Beschwerden gegen Russland sind weiterhin beim EGMR anhängig. (js)