Türkei: Angriffe auf Medienschaffende nehmen zu

Präsident Erdogan
Im kommenden Jahr finden in der Türkei Präsidentschaftswahlen statt. (Quelle: IMAGO / UIG)

Knapp ein Jahr vor den türkischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen nehmen Angriffe und Einschüchterungsversuche gegen Journalistinnen und Journalisten in dem Land zu. Wie die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF) berichtet, gehen diese von nationalistischen Politikern und ihren Unterstützern aus.

Der jüngste Angriff richtete sich laut RSF gegen die Bügerjournalistin Ebru Uzun Oruç. Sie hatte Mitte August in Istanbul für ihren YouTube-Kanal Passantinnen und Passanten nach ihrer Meinung zum Parteivorsitzenden der MHP, Devlet Bahçeli, befragt. Nachdem sie zunächst von MHP-Unterstützern bedroht wurde, sei sie von bewaffneten Personen bedroht und verfolgt worden. Oruç und ihr Partner konnten unverletzt entkommen. Drei Verdächtige wurden festgenommen, nach der Befragung jedoch wieder freigelassen.

Auf Twitter schrieb Oruç nach dem Angriff, dieser gelte “der gesamten Presse in unserem Land”. Er ziele auf die Rede- und Meinungsfreiheit aller Menschen ab.

In der Türkei sind die Wahlen des Parlaments und Präsidenten für den Juni 2023 geplant. Aktuell regiert ein Bündnis von Präsident Recep Tayyip Erdoğans autoritärer, islamistischer AKP und der ultranationalistischen MHP. Herausgefordert wird die Regierungskoalition von der “Nationalen Allianz”, die sich aus sechs verschiedenen Parteien zusammensetzt.

RSF-Geschäftsführer Christian Mihr kommentierte: “Wir befürchten, dass die Angriffe eine neue Welle der Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten ankündigen, wie wir sie schon bei den Kommunalwahlen 2019 gesehen haben, als AKP und MHP erstmals Verluste in den Großstädten verzeichneten.”

Körperlicher Angriff in Live-Sendung

Die Organisation berichtet, Anfang August hätten der nationalistische Abgeordnete Cemal Enginyurt und sein Bodyguard den Journalisten Latif Şimşek während eines Fernsehauftritts gewalttätig angegriffen. Vorausgegangen sei ein “hitziger Schlagabtausch” im Studio des Nachrichtensenders TV100. Zwar habe die Staatsanwaltschaft Ermittlungen aufgenommen und der Bodyguard wurde verhaftet – RSF zufolge gibt es aber begründete Zweifel, ob das Verfahren zu einer Verurteilung führen wird.

Ebenfalls Anfang August hatte Innenminister Süleyman Soylu die Tageszeitung BirGün verbal angegriffen. Er beschuldigte sie, “Sprachrohr der PKK” zu sein. Die Arbeiterpartei Kurdistans ist in der Türkei verboten, ebenso wie ihre Unterstützung. Ein solcher Vorwurf könne daher Gefängnisstrafen nach sich ziehen, kritisiert RSF. Der türkische Innenminister habe außerdem den Vorwurf konstruiert, die Zeitung habe versucht, ihn zu verleumden.

Der MHP-Vorsitzende Devlet Bahçeli und sein Stellvertreter Semih Yalçin Turgay Ciner hätten außerdem den Fernsehsender HaberTürk wegen dem Kommentar eines Studiogastes kritisiert. Dieser hatte moniert, dass ein nun entlassener Behördenleiter Verbindungen zur MHP habe, und gesagt, er sei mit dem zunehmenden Einfluss religiöser Gruppen unzufrieden.

Daraufhin warfen die MHP-Politiker dem Mutterunternehmen des Senders, der Ciner Media Group, vor, eine redaktionelle Linie durchgesetzt zu haben, die “der Regierungskoalition feindlich gegenübersteht”. Sie drohten dem Vorstand zudem öffentlich.

Ein Mitarbeiter des Senders erklärte, es habe sich um den Kommentar eines Gastes in einer Live-Sendung gehandelt: “Die Kritik kam von einem unserer Gäste, was in einer offenen Diskussion normal ist.” Die Moderatoren hätten keine Kritik an der Partei geäußert.

“Toxische” Stimmung

RSF berichtet außerdem von Drohungen eines Pro-Erdoğan-Aktivisten gegen zwei Moderatoren auf Twitter.

In der Türkei herrsche eine angespannte Stimmung, heißt es von der Organisation. Bereits nach den Kommunalwahlen im März 2019 habe es mehrere Monate lang Gewalt gegen Journalistinnen und Journalisten gegeben.

RSF-Geschäftsführer Mihr konstatierte: “Die Stimmung in der Türkei ist toxisch.” Reporter ohne Grenzen sei auch über das Schicksal verhafteter Medienschaffender besorgt. Die Organisation fürchtet zudem, Journalisten im Exil könnten von türkischen Nationalisten angegriffen werden. Einen solchen Fall hatte es im Sommer 2021 bereits in Berlin gegeben.

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von RSF steht die Türkei auf Rang 149 von 180 Ländern. Bei der Veröffentlichung der aktuellen Rangliste hatte RSF die Lage der Pressefreiheit in der Türkei als “katastrophal” bezeichnet. Der Organisation zufolge gehen Regierung und Justiz seit dem Putschversuch von 2016 “härter denn je” gegen kritische Journalisten vor. Dutzende seien aufgrund ihrer Berichterstattung zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden. Die Medienlandschaft stehe inzwischen fast vollständig unter Kontrolle der Regierung oder regierungsnaher Geschäftsleute.

Tausende journalistische Beiträge im Internet seien blockiert. Erst im Juli hatte die türkische Medienaufsicht TRÜK das Internetangebot der Deutschen Welle gesperrt. Angaben der türkischen Freedom of Expression Association zufolge, waren Ende 2020 über 460.000 Domains in der Türkei blockiert. (js)