Reporter ohne Grenzen: Krisen und Gewalt bedrohen Pressefreiheit
Neue Krisen und Kriege gefährden die Pressefreiheit weltweit und haben Medienschaffende seit Anfang 2021 in Gefahr gebracht. Das teilte Reporter ohne Grenzen (RSF) heute anlässlich der Veröffentlichung der diesjährigen Rangliste der Pressefreiheit mit. Die Rangliste vergleicht die Situation für Journalistinnen, Journalisten und Medien in 180 Staaten und Territorien.
Die weltweite Lage der Pressefreiheit werde seit Anfang 2021 von Krisen, Kriegen und Gewalt bestimmt, so RSF. So habe beispielsweise die Junta in Myanmar nach dem Militärputsch unabhängigen Journalismus quasi unmöglich gemacht. Zahlreiche Medienschaffende wurden dort zu Gefängnisstrafen verurteilt. Das Land rutscht auf Platz 176 von 180 der Rangliste.
In Afghanistan (Platz 156) habe die Machtübernahme der Taliban die Arbeitsbedingungen für Medienschaffende enorm erschwert. In allen Teilen des Landes würden sie Ziel von Einschüchterungen und Gewalt und es herrsche teils offene Zensur. Besonders betroffen seien Frauen: Vier von fünf Journalistinnen hätten ihren Beruf inzwischen aufgegeben oder aufgeben müssen.
Krieg in der Ukraine
Russland habe die Pressefreiheit nach dem Angriff auf die Ukraine “de facto abgeschafft”. Das Land belegt nun Platz 155 der Rangliste. Bereits im vergangenen Jahr hatten viele Journalisten und Redaktionen ihre Arbeit eingestellt, nachdem sie zu “ausländischen Agenten” erklärt wurden. Nach der Invasion in der Ukraine hatte die russische Medienaufsichtsbehörde dann Wörter wie “Krieg” und “Angriff” in der Berichterstattung verboten. Bei Verbreitung angeblicher Falschinformationen über die russische Armee drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Nach Angaben von RSF haben hunderte unabhängiger Journalistinnen und Journalisten das Land inzwischen verlassen. Kremlkritische Medien haben ihre Arbeit eingestellt.
In der Ukraine (Rang 106) habe sich die Lage seit dem russischen Angriff verschlechtert. Mindestens sieben Medienschaffende seien dort in den ersten zwei Monaten des Krieges getötet worden. Die russische Armee habe absichtlich auf Medienteams geschossen. Journalisten seien von russischen Soldaten entführt oder ihre Angehörigen unter Druck gesetzt worden, um sie zum Schweigen zu bringen.
“Morde und Entführungen, Verhaftungen und körperliche Angriffe sind bloß unterschiedliche Ausprägungen desselben Problems: Regierungen, Interessengruppen und Einzelpersonen wollen Medienschaffende mit Gewalt daran hindern, unabhängig zu berichten. Dieses Phänomen beobachten wir in allen Teilen der Welt, ob in Russland, Myanmar oder Afghanistan – oder selbst in Deutschland, wo die Aggressivität gegenüber Journalistinnen und Journalisten auf ein Rekordhoch gestiegen ist”, sagte RSF-Vorstandssprecher Michael Rediske.
Pressefreiheit in Europa
Europa sei weiterhin die Weltregion, in der Journalistinnen und Journalisten im Vergleich am freiesten arbeiten können. Doch auch dort hat RSF im vergangenen Jahr zunehmende Gewalt gegen Medienschaffende beobachtet. Traurige Höhepunkte waren die Morde an dem Kriminalreporter Giorgos Karaivaz in Griechenland und dem bekannten Polizeireporter Peter R. de Vries in den Niederlanden.
RSF kritisiert, die Ermordung von Karaivaz sei noch immer nicht aufgeklärt. Außerdem seien in Griechenland Medienschaffende immer wieder daran gehindert worden, über kontroverse Themen wie etwa die Situation von Geflüchteten auf den griechischen Inseln zu berichten. Es komme “regelmäßig” zu Angriffen auf Redaktionen durch Rechts- und Linksextreme. Ein neues Fake-News-Gesetz erhöhe zudem die Gefahr von Selbstzensur. Griechenland löst in diesem Jahr Bulgarien (Rang 91) als am schlechtesten platziertes Land in der EU ab und belegt Platz 108.
Die Niederlande waren bisher unter den zehn am besten platzierten Ländern – durch den Mord an de Vries sind sie nun auf Rang 28 abgerutscht. Traditionell nehme Pressefreiheit in dem Land einen hohen Stellenwert ein und werde durch Gesetze, Staat und Behörden geschützt. Übergriffe auf Medienschaffende und Redaktionen habe es aber auch früher schon gegeben – zuletzt habe zudem die verbale Aggression on- und offline zugenommen.
Auch die Lage in Deutschland hat sich um drei Plätze verschlechtert – auf Rang 16. RSF begründet dies vor allem mit Gewalt gegen Medienschaffende bei Demonstrationen. Mit 80 verifizierten Fällen lag die Zahl der Übergriffe im vergangenen Jahr so hoch wie nie seit Beginn der Dokumentation im Jahr 2015. Die meisten Angriffe hätten sich während Protesten gegen die Coronamaßnahmen ereignet: Medienschaffende seien bespuckt, getreten oder bewusstlos geschlagen worden. Zudem seien 12 Angriffe der Polizei auf Pressevertreter dokumentiert worden. Auch zu Hause, im Gerichtssaal und in Fußballstadien seien Journalisten attackiert worden. RSF geht darüber hinaus von einer hohen Dunkelziffer aus.
Außerdem kritisiert die Organisation Gesetzgebung in Deutschland, die Medienschaffende und ihre Quellen gefährde. Dazu zählt etwa die im Juni 2021 verabschiedete Novelle des Verfassungsschutzrechts, womit erstmals alle deutschen Nachrichtendienste Spähsoftware zur Überwachung von Kommunikation einsetzen dürfen. Im vergangenen Oktober hat RSF gegen diese Befugnis geklagt und will ein Verbot des Einsatzes von Spionagesoftware gegen “unverdächtige Nebenbetroffene” wie Journalisten erwirken.
In Deutschland nehme zudem die Vielfalt bei den Tageszeitungen weiter ab. Wirtschaftliche Probleme hätten sich durch die Corona-Pandemie weiter verstärkt.
Innerhalb Europas kam es außer in Deutschland und den Niederlanden insbesondere in Frankreich (Rang 26) und Italien (Rang 58) zu etlichen gewalttätigen Übergriffen auf Pressevertreter.
Polen (Rang 66) habe zwar eine diverse Medienlandschaft. Allerdings habe die Regierung wiederholt versucht, Einfluss auf die redaktionelle Linie privater Medien zu nehmen.
Die Lage der Pressefreiheit in der Türkei (Rang 149) beschreibt RSF als “katastrophal”. 90 Prozent der Medien würden staatlich kontrolliert, das Internet werde systematisch zensiert und die Justiz dazu missbraucht, Journalisten mundtot zu machen. Anfang 2021 wurden dort zwei Medienschaffende ermordet.
Auch in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas sei die Lage besorgniserregend: Mehrere Journalisten wurden 2021 dort bei ihrer Arbeit getötet oder vorsätzlich ermordet. So wurde beispielsweise im Libanon (Rang 130) der Journalist Lokman Slim im Februar tot neben seinem Auto gefunden. RSF schreibt, auf den Kritiker der Hisbollah sei ein Kopfgeld ausgesetzt gewesen. Auch im Jemen (Rang 169) sei die Berichterstattung oft lebensgefährlich. In der viertgrößten Stadt des Landes, Aden, starben drei Reporter bei Explosionen.
Tunesien belegt mit Rang 94 noch den besten Platz unter den Ländern der Region. Presse- und Informationsfreiheit seien Errungenschaften der Verfassung von 2014. Bedenken seien allerdings aufgekommen, als Präsident Kais Saied im Juli 2021 die Macht übernahm und den Ausnahmezustand ausrief.
Im Subsahara-Afrika sei die Lage der Pressefreiheit äußerst heterogen. Südafrika (Rang 35) oder der Senegal (Rang 73) verfügten über eine vielfältige Medienlandschaft. In Ländern wie Dschibuti (Rang 164) gebe es hingegen keinen Raum für eine freie und unabhängige Presse.
Einschüchterungskampagnen in Lateinamerika
Das Arbeitsfeld für Journalisten in den meisten Ländern Lateinamerikas beschreibt RSF als “zunehmend toxisch”. Medienfeindliche Rhetorik aus der Politik befeuere unter anderem in Brasilien (Rang 110), Venezuela (Rang 159) und El Salvador (Rang 112) das Misstrauen gegen die Medien. Es gebe Verleumdungs- und Einschüchterungskampagnen, insbesondere gegen Journalistinnen.
Im Mexiko (Rang 127) wurden im vergangenen Jahr mindestens sieben Medienschaffende ermordet. Zum dritten Mal in Folge sei es das “tödlichste Land der Welt” für Journalisten.
Eine Ausnahme in der Region stellt Costa Rica dar. Das Land belegt Platz 8 und ist laut RSF ein Einzelfall auf dem amerikanischen Doppelkontinent.
Den größten Abstieg in der Rangliste der Pressefreiheit hat Hongkong zu verzeichnen; die Sonderverwaltungszone fiel von Platz 80 auf 148. China (Rang 175) weite sein Modell der Informationskontrolle auf die Sonderverwaltungszone aus. Einst sei Hongkong eine Bastion der Pressefreiheit gewesen – nun würden Redaktionen geschlossen und Medienschaffende verhaftet.
Skandinavische Länder an der Spitze
An der Spitze der Rangliste steht zum sechsten Mal in Folge Norwegen. Danach folgen Dänemark und Schweden. Mit Estland (Rang 4) ist zum ersten Mal eine ehemalige Sowjetrepublik unter den am besten bewerteten fünf Ländern. Politiker würden Medienschaffende dort nicht angreifen; Medienhäuser hätten zudem mit Schutzmaßnahmen für ihre Beschäftigten auf Online-Hetze reagiert. Finnland folgt auf Platz 5.
Die Schlussgruppe der Rangliste bilden totalitäre Regime: Auf den Plätzen 177 bis 180 liegen Turkmenistan, der Iran, Eritrea und Nordkorea.
In diesem Jahr befinden sich zwölf Länder in der schlechtesten Kategorie “sehr ernste Lage” – so viele wie noch nie. Allerdings ist dies laut RSF eher als Tendenz zu verstehen. Denn die Rangliste wurde in diesem Jahr mit einer neuen Methodik erstellt, was zu einer eingeschränkten Vergleichbarkeit führe. Die Rangliste stützt sich nun auf fünf neue Indikatoren: politischer Kontext, rechtlicher Rahmen, wirtschaftlicher Kontext, soziokultureller Kontext und Sicherheit. Erhoben werden diese durch eine quantitative Erhebung von Übergriffen auf Journalisten sowie durch eine qualitative Untersuchung, für die ausgewählte Journalisten, Wissenschaftler und Menschenrechtler in den jeweiligen Ländern 123 Fragen beantworten.
Nach Angaben von RSF spiegelt die Rangliste der Pressefreiheit 2022 die Situation von Anfang 2021 bis Ende Januar 2022 wieder. Weil sich die Lage seitdem in Russland, der Ukraine und in Mali dramatisch verändert habe, wurden bei diesen drei Ländern die Entwicklungen bis Ende März 2022 berücksichtigt. (js)