Tunesien: Kritik an Dekret gegen Falschinformationen
Ein neues Gesetz in Tunesien stellt Falschinformationen unter Strafe. NGOs wie Reporter ohne Grenzen fürchten, es könnte zur Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit führen – und fordern die Aufhebung.
Die neuen Regeln wurden Mitte September als Präsidialdekret erlassen. Tunesische Journalistinnen und Journalisten haben seitdem Sorgen über den “undemokratischen Charakter” geäußert, berichtet Reporter ohne Grenzen (RSF).
Das Dekret stellt die Verbreitung von “Gerüchten und Fake News” im Internet unter Strafe. Dazu zählen etwa die Veröffentlichung angeblicher Falschnachrichten oder gefälschter Dokumente mit dem Ziel, die Rechte anderer Personen zu verletzen, die öffentliche Sicherheit zu beeinträchtigen oder “Terror zu verbreiten”. Dies kann mit bis zu fünf Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von umgerechnet etwa 15.600 Euro bestraft werden.
Werden angeblich unwahre Behauptungen gegen Amtsträger verbreitet, kann die Gefängnisstrafe sogar bis zu zehn Jahre betragen.
NGOs warnen vor Einschränkung der Pressefreiheit
Gemeinsam mit weiteren Organisationen wie Access Now und der tunesischen Journalistengewerkschaft bemängelt RSF die Verwendung “vager Begriffe”. So sei im Dekret nicht definiert, was als Gerücht oder Falschnachricht zählt. Diese Begriffe könnten damit weit ausgelegt und missbraucht werden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen. Die Organisationen fürchten, dass Medienschaffende, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker auf Grundlage des Dekrets strafrechtlich verfolgt werden könnten.
Laut den Organisationen steht diese Regelung im Widerspruch zu internationalen Standards. Das Recht auf Meinungsfreiheit könne zwar eingeschränkt werden, etwa um die nationale Sicherheit zu schützen, die entsprechenden Regeln müssten aber hinreichend präzise formuliert sein. Außerdem verstoße das Dekret gegen die in der tunesischen Verfassung verankerten Grundsätze der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit.
Khaled Drareni, RSF-Repräsentatant für Nordafrika, erklärte: “Zensur und Verbote sind der falsche Weg, um gegen Desinformationen und Fake News vorzugehen. Dieses drakonische Gesetz soll Journalisten davon abhalten, ihre Arbeit zu machen. Es zielt darauf ab, ein Klima der Angst zu schaffen und Medienschaffende dazu zu bringen, sich selbst zu zensieren.”
Die Organisationen fordern den tunesischen Präsidenten Kais Saied auf, das Dekret zurückzuziehen. Es gebe weniger restriktive Mittel, gegen Falschinformationen vorzugehen: Die Regierung solle etwa Mechanismen zur Faktenprüfung fördern. Die Organisationen wollen sich wegen des Dekrets auch an die UN-Sonderberichterstatterin zur Meinungsfreiheit wenden.
Rückkehr zum autoritären System befürchtet
RSF warnt, Tunesien befinde sich in einer schweren politischen Krise, in der die demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahre gefährdet seien. Es drohe eine Rückkehr zu einem autoritären System.
Präsident Kais Saied steht schon länger in der Kritik: Am 25. Juli 2021 hatte er mithilfe eines Notstandsartikels der Verfassung den damaligen Regierungschef Hichem Mechichi ab- und die Arbeit des Parlaments ausgesetzt. Am folgenden Tag stürmte die Polizei das Büro des Senders Al-Jazeera in der Hauptstadt Tunis und konfiszierte Ausrüstung. Im September 2021 hatte er Teile der Verfassung außer Kraft gesetzt und angekündigt, künftig per Dekret zu regieren.
Im Juli wurde in einem Referendum eine neue Verfassung angenommen – offiziellen Angaben zufolge lag die Wahlbeteiligung aber bei nur 30 Prozent. Die Opposition im Land hatte zum Boykott der Abstimmung aufgerufen. Die neue Verfassung gibt dem Präsidenten mehr Macht: Er kann die Regierung und Richter ernennen und entlassen.
Nach Angaben des Komitees zum Schutz von Journalisten (CPJ) fehlen in der neuen Verfassung viele Artikel, die in der Verfassung von 2014 Rechte und Freiheiten garantiert hatten. Erst Anfang September hatte die Organisation die Festnahme eines Journalisten auf Grundlage vager Terrorismusvorwürfe kritisiert. Zwei Journalisten seien in den vergangenen Monaten zudem von einem Militärgericht zu Haftstrafen verurteilt worden.
Anfang des Jahres hatte Human Rights Watch berichtet, der Präsident habe das staatliche Fernsehen unter seine Kontrolle gebracht. In den Talkshows würden seitdem keine Gäste mehr auftreten, die den Präsidenten kritisieren.
Nach Angaben von Reporter ohne Grenzen war in Tunesien nach der Revolution von 2011 eine vielfältige Medienlandschaft entstanden. Doch die Organisation kritisiert, bereits seit der Wahl im Jahr 2019 habe sich das Klima im Land deutlich verschlechtert. Auf der Rangliste der Pressefreiheit der Organisation steht Tunesien auf Rang 94 von 180 Staaten. (js)