EU-Plastikabfälle gefährden Menschen in der Türkei

Recycling-Fabrik
Arbeiter bekommen teils unzureichende oder gar keine Schutzausrüstung zu Verfügung gestellt. Medizinische Versorgung fehlt oftmals. (Quelle: IMAGO / Xinhua)

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) warnt in einem neuen Bericht vor den verheerenden Folgen von Müllexporten aus der EU in die Türkei: Beim Recycling europäischer Kunststoffabfälle würden Giftstoffe freigesetzt, die die Gesundheit der dortigen Bevölkerung gefährden.

Regierung und Behörden in der Türkei täten zu wenig zum Schutz von Bevölkerung und Umwelt. Gesetze würden nicht eingehalten und Arbeitsschutzmaßnahmen nicht durchgesetzt.

Für den Bericht "‘It’s as If They’re Poisoning Us’: The Health Impacts of Plastic Recycling in Turkey" hat HRW 64 Personen im Zeitraum zwischen Dezember 2021 bis März 2022 in den Städten Istanbul und Adana befragt, die in Kunststoffrecycling-Anlagen arbeiten oder gearbeitet haben oder in der Nähe solcher Einrichtungen wohnen. Diese Menschen stammten oft aus stark ausgegrenzten Bevölkerungsgruppen, wie Flüchtlinge. HRW berichtet, auch Kinder hätten in solchen Anlagen gearbeitet.

HRW fordert Exportländer wie die EU-Staaten dazu auf, keinen Plastikmüll mehr auszuführen und stattdessen sparsamer mit Kunststoffen umzugehen. Es müsse weniger produziert werden.

Prekäre Bedingungen und Kinderarbeit

Die von HRW interviewten Betroffenen berichteten von prekären Arbeitsbedingungen: Arbeiter im Plastikrecycling würden in der ganzen Türkei deutlich unter dem türkischen Mindestlohn bezahlt und durchschnittlich 12 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche arbeiten. Schutzausrüstung oder ärztliche Betreuung bei Berufskrankheiten werde nicht zur Verfügung gestellt.

Sie litten unter Atemproblemen, Kopfschmerzen und Hautproblemen. Einige der Angestellten gaben an, generell keinen Zugang zu medizinischer Versorgung zu haben, wenn sie krank werden oder sich am Arbeitsplatz verletzen. Weil die Arbeitnehmer Angst hätten, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, beschwerten sie sich auch nicht bei ihrem Arbeitgeber über die gefährlichen Arbeitsbedingungen und bestünden beispielsweise nicht auf persönliche Schutzausrüstung.

Auch Kinder würden in den Recyclinganlagen ab einem Alter von neun Jahren arbeiten, berichtet HRW. Von 26 befragten Arbeitern hätten neun bereits als Kind in den Einrichtungen gearbeitet, fünf davon waren auch zum Zeitpunkt des Interviews noch Kinder.

Müllsammler
Syrische Flüchtlinge sichten in einer Müllsammelstelle in der südtürkischen Stadt Gaziantep den aus Müllcontainern gesammelten Abfall und sortieren ihn für die Recyclingzentren vor. (Quelle: IMAGO / ZUMA Wire)

“Es gibt einen riesigen Kessel, in dem das Material gekocht wird, und sie fügen immer wieder Wasser hinzu, das als Dampf wieder rauskommt”, erzählte ein 20-jähriger Müllsammler in Adana gegenüber HRW, der als Kind in einer Kunststoffrecyclinganlage gearbeitet hatte. “Wenn ich das einatmete, fühlte es sich an, als würden meine Lungen zusammengedrückt und unter Druck stehen… Ich habe vor zwei Monaten aufgehört, dort zu arbeiten, aber ich habe immer noch Probleme beim Atmen.”

Eigentlich verbietet das türkische Gesetz, dass Kinder unter 15 Jahren arbeiten.

Gestank und fehlende Informationen

Auch Menschen, die in nächster Nähe der Recycling-Anlagen leben, leiden laut HRW unter den Auswirkungen der Müllverwertung. Staatlich lizenzierte Anlagen in Adana und Istanbul befänden sich oft gefährlich nah an Wohnhäusern. Obwohl das türkische Gesetz eigentlich vorschreibe, dass Recyclinganlagen einen “gesunden” Abstand zu Siedlungen, Schulen und Krankenhäusern einhalten müssen. Sie dürften demnach die Gesundheit und Lebensqualität der Anwohner nicht beeinträchtigen.

Befragte Anwohner beklagten gegenüber HRW aber die gleichen gesundheitlichen Symptome wie die Arbeiter.

Zudem berichteten einige Anwohnerinnen und Anwohner über starke Geruchsbelästigung und Verschmutzung durch das Plastikrecycling. Sie könnten deswegen nicht mehr unbelästigt schlafen, ihre Fenster öffnen oder sich im Freien aufhalten.

Weder Anwohner noch aktuelle oder ehemalige Mitarbeiter von Recyclinganlagen hätten Informationen über die Risiken der toxischen Belastung durch die Recyclinganlagen erhalten – auch nicht darüber, wie sie sich schützen könnten. Behörden und Arbeitgeber seien laut HRW aber eigentlich gesetzlich verpflichtet, über die Auswirkungen von Luftverschmutzung und Schadstoffbelastung zu informieren.

Asthma, Krebs und Unsicherheit

Für das Recycling müssen die Kunststoffabfälle geschreddert, gewaschen, bei hohen Temperaturen geschmolzen und dann zu Pellets verarbeitet werden. In diesem Zustand dienen sie dann als Rohstoff für neue Waren.

Während des Recycling-Prozesses werden Luftschadstoffe und Gifte freigesetzt. Insbesondere beim Schreddern werden laut HRW Giftstoffe emittiert, die erhebliche Gesundheitsrisiken darstellen. Beim Zerkleinern freigesetzter Feinstaub schädige beispielsweise die Gesundheit der Atemwege und des Herz-Kreislauf-Systems und könne zu Asthma und einer Verschlechterung der Lungenfunktion führen. Andere beim Recycling freigesetzte Schadstoffe können ebenfalls Gesundheitsprobleme wie Asthma, Atmenbeschwerden oder Augenreizungen verursachen.

Studien bestätigen die Angaben von HRW und bringen die in Plastik enthaltenen Stoffe mit einem erhöhtem Krebsrisiko, neurologischen Auswirkungen und Schädigungen des Fortpflanzungssystems in Verbindung. Einige gesundheitliche Auswirkungen könnten sich erst Jahre oder Jahrzehnte nach dem Kontakt mit den Schadstoffen zeigen.

Zudem ist nur ein kleiner Teil der 350.000 in Kunststoffen verwendeten Chemikalien vollständig auf Sicherheit geprüft. Weltweit fände nur begrenzt eine wissenschaftliche Bewertung und Überwachung der Auswirkungen neuer Chemikalien auf die menschliche Gesundheit und die Umwelt statt, so HRW.

Reiche Länder suchen neue Müllhalden

Seit 2018 hat sich die Türkei zum Hauptimporteur von Kunststoffabfällen aus der EU entwickelt. Bis zu diesem Jahr war es China, das den Großteil der EU-Abfälle abnahm. Doch 2018 verbot die chinesische Regierung den Import von Kunststoffabfällen aufgrund der hohen Umweltauswirkungen.

Die EU-Staaten und andere Länder des globalen Nordens hätten daraufhin nach neuen Abnehmern gesucht. 2020 und 2021 exportierte die EU dann fast die Hälfte ihrer Plastikabfälle in die Türkei, so HRW. Denn die Türkei liege geografisch günstig, pflege starke Handelsbeziehungen mit Europa und ist Mitglied der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung.

Neben der Türkei zählen auch Malaysia, Indonesien und Vietnam zu den wichtigsten Abnehmern von Kunststoffabfällen aus den Ländern des globalen Nordens. Allerdings seien die Exporte von Plastikmüll seit 2017 rückläufig, da die Importländer strengere Vorschriften eingeführt haben.

Greenpeace hatte bereits im Mai 2021 in einer Untersuchung festgestellt, dass nicht-recyclebare Plastikabfälle aus europäischen Staaten teils illegal in die Türkei exportiert wurden. Dort landeten sie beispielsweise in der Region Adana illegal am Straßenrand, auf Feldern und in der Nähe von Flüssen. Teils wurde der Müll verbrannt und setzte gesundheitsschädliche, teils krebserregende Substanzen frei.

Keine Hilfe seitens Regierung und Behörden

Um auf die Missstände im Land hinzuweisen, hat HRW Ministerien und Gemeinden über Ergebnisse der Untersuchung informiert. Zudem hat die Organisation zusammen mit der Nichtregierungsorganisation Citizens Assembly 22 Anfragen an zuständige Ministerien und Kommunen gestellt, um Informationen über Kunststoffrecyclinganlagen, Daten zur Luftqualität, Inspektionsberichte, Krankheitsraten im Zusammenhang mit toxischer Belastung, Daten über die Einfuhr von Kunststoffabfällen und Kinderarbeit zu erhalten.

Kinderarbeit
Die freigesetzten Giftstoffe wirken auf Kinder besonders schädigend. Doch werden auch sie kaum von den Behörden geschützt. (Quelle: IMAGO / Xinhua)

In einigen Fällen sei gar keine Antwort erfolgt, in anderen seien die Informationen unvollständig gewesen. Innerhalb des gesetzlich vorgeschriebenen Zeitrahmens seien nur zwei Antworten eingegangen.

Das Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel erklärte beispielsweise, es habe seit 2018 Tausende Inspektionen von Abfallentsorgungs- und Recyclinganlagen durchgeführt. Dabei seien auch Geldstrafen verhängt und Anlagen ohne Lizenz geschlossen worden. Spezifische Daten zum Kunststoffrecycling konnte die Behörde aber nicht vorlegen. HRW fordert entschlossenere Schritte, “um gegen die weit verbreiteten Verstöße gegen das Recht auf Gesundheit vorzugehen”.

Petitionen ignoriert

Von Anwohnern initiierte Petitionen seien in der Vergangenheit von den verantwortlichen Behörden und Betreibern ignoriert oder gar unterdrückt worden, berichteten Betroffene gegenüber HRW. In Adana hätten Bewohner Unterschriften gesammelt und mindestens drei Petitionen an die Stadtverwaltung geschickt.

In einem Fall hätten drei Frauen etwa 300 Unterschriften gegen Geruch, Lärm und Luftverschmutzung durch mehrere Kunststoffrecyclinganlagen eingereicht. Die örtliche Polizei und der Anlagenbesitzer hätten sie daraufhin bedroht. Die Gemeinde sei gar nicht erst auf die Beschwerden eingegangen.

Ein weiterer Einwohner Adanas habe im Jahr 2020 ebenfalls Unterschriften in seiner belasteten Nachbarschaft gesammelt und Beschwerde bei der Gemeinde eingereicht. Er kritisierte, die Recyclinganlagen lägen zu nahe an Wohnhäusern und die Luftverschmutzung gefährde die Sicherheit von Kindern und mache Menschen krank.

Innerhalb einer Woche hätten der Chef der Stadtpolizei und der Leiter des Industriegebiets den Beschwerdeführer zusammen zu Hause besucht und mitgeteilt, dass sie einige Monate bräuchten, um auf die Beschwerde zu reagieren – laut Gesetz hätten sie innerhalb von 30 Tagen aktiv werden müssen. Anschließend passierte in dem Fall nichts mehr, weder von Seiten der Polizei noch vom Betreiber. Nach dem Besuch fühlte sich der Anwohner eingeschüchtert, erzählte er HRW gegenüber.

Gesetze durchsetzen

HRW fordert alle Beteiligten dazu auf, gegen die Missstände in der türkischen Recyclingbranche vorzugehen: die türkische Regierung, die türkischen Ministerien, die involvierten Kommunen, die Kunststoffrecyclingunternehmen und zuletzt die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten. Für alle diese Stellen hat die Organisation einzelne Empfehlungen im Bericht formuliert.

Eigentlich existieren auch in der Türkei Gesetze, um Arbeiter, Kinder und Anwohner vor den Gefahren der Recyclingfabriken zu schützen. Doch setze die Regierung diese Vorschriften nicht durch, so HRW. Lizenzen würden zu lapidar vergeben, Inspektionen der Anlagen und des Arbeitsschutzes seien nicht regelmäßig und gründlich genug.

HRW-Mitarbeiterin Krista Shennum kritisierte: “Die türkische Regierung muss mehr tun, um ihrer Verpflichtung nachzukommen, die Menschen vor den Auswirkungen von giftigem Plastikrecycling zu schützen.” Die verantwortlichen Politiker sollten gegen die Menschenrechtsverletzungen vorgehen, alle nicht lizenzierten Kunststoffanlagen identifizieren und zur Schließung auffordern. Die Betreiber müssten unverzüglich ordnungsgemäße Lizenzen beantragen.

Das Ministerium für Umwelt, Urbanisierung und Klimawandel solle wirksame, regelmäßige und unangekündigte Inspektionen der Recyclingeinrichtungen durchführen, um die Einhaltung von Umweltvorschriften sicherzustellen. HRW fordert, Anlagen in zu großer Nähe von Wohnhäusern und Schulen zu schließen oder zu verlegen. Die Behörden müssten Informationen über die Risiken durch Luftverschmutzung öffentlich bereitstellen.

Das Gesundheitsministerium solle Studien zur Gesundheitsverträglichkeit in der Nähe von Kunststoffrecyclinganlagen durchführen und Gesundheitsdaten der Gemeinschaft zugänglich und verfügbar machen.

Von dem Ministerium für Arbeit und soziale Sicherheit fordern die Menschenrechtler, das türkische Verbot von Kinderarbeit durchzusetzen.

EU muss Verantwortung übernehmen

Auch die Länder, die Plastikmüll exportieren, nimmt HRW in die Pflicht: Die EU solle Maßnahmen ergreifen, um ihren Plastikmüll in den eigenen Ländern effektiver zu entsorgen, anstatt ihn in Länder zu verschiffen, in denen die Regierung Umwelt- und Arbeitsvorschriften nur unzureichend durchsetzt. Dazu solle die türkische Regierung auch ein eigentlich bereits im Juli 2021 eingeführtes Einfuhrverbot für Kunststoffabfälle wieder in Kraft setzen. Es war kurz nach seinem Start wieder aufgehoben worden.

“Die wohlhabendsten Länder Europas schicken ihren Müll in die Türkei und setzen einige der am stärksten gefährdeten Gemeinschaften der Türkei, darunter Kinder, Flüchtlinge und Migranten, ernsthaften Umwelt- und Gesundheitsrisiken aus“, mahnte Menschenrechtlerin Shennum. “Die EU und die einzelnen Staaten, die Kunststoffabfälle exportieren, sollten die Verantwortung für ihren eigenen Plastikmüll übernehmen, den Export von Plastik in die Türkei beenden und die Menge an Plastik, die sie produzieren und verbrauchen, reduzieren.” (hcz)