Tunesien: Regierungskritiker wegen Meinungsäußerungen verurteilt
In Tunesien wurden zwei Oppositionelle wegen angeblicher Verstöße gegen das Dekret zur Bekämpfung von Internetkriminialität verurteilt. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) soll es sich um die ersten Verurteilungen auf Grundlage des umstrittenen Gesetzes handeln. Auch weitere Personen seien wegen Online-Meinungsäußerungen verhaftet worden oder es werde gegen sie ermittelt, berichtet die Organisation.
Nach Angaben von HRW wurde Anfang vergangener Woche ein Mitglied der größten Oppositionspartei Ennahda, Sofiane Zneidi, zu einer achtmonatigen Gefängnisstrafe verurteilt. Außerdem muss er eine Geldstrafe in Höhe von umgerechnet etwa 1475 Euro bezahlen.
Zneidi befinde sich bereits seit dem 18. April in Haft. Damals sei er wegen eines Facebook-Beitrags verhaftet worden, in dem er seine Unterstützung für den Ennahda-Vorsitzenden Rached Ghannouchi geäußert hatte, nachdem dieser einen Tag zuvor verhaftet worden war.
Laut HRW wurde Zneidi ein angeblicher Verstoß gegen Artikel 24 des Dekrets 54 zur Bekämpfung von sogenanntem “Cybercrime” vorgeworfen. Der Artikel des im Jahr 2022 erlassenen Präsidialdekrets stellt die Verbreitung von angeblichen Falschinformationen unter Strafe.
Bewährungsstrafe
Ebenfalls in der vergangenen Woche wurde zudem die prominente tunesische Oppositionelle Chaima Issa von einem Militärgericht zu einem Jahr Gefängnis auf Bewährung verurteilt. Issa gehört zur Leitung einer Koalition von oppositionellen Parteien.
Nach Angaben von HRW wurde sie ebenfalls wegen eines angeblichen Verstoßes gegen Artikel 24 des Dekrets verurteilt. Außerdem wurde das Militärgesetz angewendet, weil sie angeblich die Armee zur Befehlsverweigerung angestiftet haben soll. Auch wegen Präsidentenbeleidigung befand das Militärgericht sie für schuldig. Hintergrund sind kritische Äußerungen von Issa über die Rolle des Militärs unter der Regierung von Präsident Kais Saied, so HRW.
Zneidi und Issa sind nach Angaben der Organisation die ersten beiden Personen, die auf Grundlage des Dekrets verurteilt wurden.
HRW kritisiert zudem, dass der Prozess gegen Issa vor einem Militärgericht stattfand: Die Verurteilung von Zivilisten vor einem solchen Gericht verstoße gegen internationale Standards für das Recht auf ein faires Verfahren.
Kritik schon im Jahr 2022
Das Dekret 54 zur “Verhinderung und Verfolgung von Straftaten im Zusammenhang mit Informations- und Kommunikationssystemen” wurde bereits bei Erlass im Jahr 2022 scharf kritisiert. Die Verbreitung von angeblichen Falschnachrichten kann demnach mit bis zu fünf Jahren Haft und Geldstrafen bestraft werden. Kritiker wie HRW oder Amnesty International bemängeln dabei die Verwendung vager Begriffe im Gesetzestext. Obwohl das Gesetz der Verfolgung von Internet-Kriminalität dienen solle, sei vor allem die Definition von Straftaten erweitert worden, um kritische Online-Äußerungen einzuschränken – was gegen internationale Normen zur Meinungsfreiheit verstoße.
Auch Reporter ohne Grenzen, Access Now und die tunesische Journalistengewerkschaft hatten bereits im Jahr 2022 gewarnt, Medienschaffende, Menschenrechtler und Oppositionspolitiker könnten auf Grundlage des Dekrets strafrechtlich verfolgt werden.
Salsabil Chellali von HRW kritisierte, seit dem Erlass des Gesetzes sei es dazu genutzt worden, Kritiker einzuschüchtern. Sie forderte: “Tunesien sollte alle Personen, die wegen ihrer friedlichen Meinungsäußerung inhaftiert sind, sofort freilassen, alle Anklagen fallen lassen und das Dekret 54 aufheben.”
HRW berichtet von weiteren Fällen
HRW berichtet von weiteren Festnahmen auf Grundlage von Artikel 24: So sei ein 26-jähriger Ennahda-Anhänger von Ende April bis Ende Juli inhaftiert gewesen, weil er in Facebook-Beiträgen den Parteivorsitzenden Ghannouchi unterstützt und Präsident Saied kritisiert hatte.
Auch ein Redakteur des Radiosenders Sabra FM sei von Anfang Oktober bis Anfang Dezember wegen eines Facebook-Beitrags inhaftiert gewesen. Derzeit befinde sich der Journalist in Freiheit – bis zum Beginn des Gerichtsprozesses gegen ihn.
Mindestens 18 weitere Personen seien auf Grundlage desselben Gesetzes angeklagt oder es werde polizeilich gegen sie ermittelt, so HRW. Darunter befänden sich mehrere Anwältinnen und Anwälte, Medienschaffende, sowie ein ehemaliges Mitglied der tunesischen Wahlkommission. Die meisten dieser Ermittlungen seien eingeleitet worden, nachdem sich Regierungsbeamte beschwert hatten.
Chellali von HRW kritisierte, das Dekret 54 sei instrumentalisiert worden, um die Rechte der Tunesierinnen und Tunesier zu beschneiden. “Unter einem solchen Dekret kann sich kein Regierungskritiker sicher fühlen.”
Tunesiens Präsident Saied steht seit längerem wegen seiner zunehmend autoritären Regierungsweise in der Kritik. HRW beobachtete im Jahr 2022 unter anderem Einschränkungen der freien Meinungsäußerung sowie Repressionen gegen Oppositionelle und Regierungskritiker in dem nordafrikanischen Land. (js)