Urteil: Massenüberwachung verletzt Menschenrechte
Der britische Geheimdienst GCHQ hat mit seiner anlasslosen Massenüberwachung gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen. Das hat die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) am Dienstag entschieden. Mehrere Nichtregierungsorganisationen hatten zwischen 2013 und 2015 geklagt, nachdem bekannt geworden war, dass der Geheimdienst massenhaft Kommunikationsdaten abgreift.
Die Überwachung verstieß gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 EMRK), stellten die Richter fest. Denn im zugrunde liegenden Überwachungsgesetz fehlten ausreichende Schutzmaßnahmen, um den Eingriff in das Privatleben von Bürgerinnen und Bürgern auf das “in einer demokratischen Gesellschaft notwendige Maß” zu beschränken.
Auch das Recht auf freie Meinungsäußerung (Artikel 10 EMRK) wurde verletzt, da kein Schutz von Journalistinnen und Journalisten und ihren Quellen vorgesehen war. Das Gericht nannte den Quellenschutz einen Eckpfeiler der Pressefreiheit. Diesen Schutz zu untergraben, wirke sich auf die öffentliche Kontrollfunktion der Presse sowie auf ihre Fähigkeit aus, zuverlässige Informationen zu liefern.
Allerdings erklärte das Gericht die Massenüberwachung nicht generell für unzulässig. Die Richter legten neue Schutzmaßnahmen fest, nach denen die Staaten an jeder Stelle des Überwachungsprozesses die Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit überprüfen müssen. So muss eine unabhängige Stelle die Massenüberwachung genehmigen und im Nachhinein muss es eine unabhängige Kontrolle geben. Auch die Kategorien der Suchbegriffe, die zum Durchleuchten der Kommunikation genutzt werden, müssen genehmigt werden.
Die Entscheidung des Gerichts bezieht sich auf die Rechtslage nach dem “Regulation of Investigatory Powers Act” aus dem Jahr 2000, der inzwischen ersetzt wurde. Im Jahr 2018 hatte die erste Sektion des Gerichts bereits ein ähnliches Urteil gefällt und einen Verstoß gegen die Artikel 8 und 10 der EMRK festgestellt. Die Große Kammer hat dieses Urteil nun bestätigt und zusätzlich Schutzmaßnahmen definiert.
NGOs hatten geklagt
Zwischen 2013 und 2015 hatten insgesamt 16 Nichtregierungsorganisationen und Personen gegen die Massenüberwachung durch den britischen Geheimdienst geklagt – darunter Big Brother Watch, Open Rights Group, Amnesty International, Privacy International und die Sprecherin des Chaos Computer Clubs, Constanze Kurz. Der EGMR hatte die Klagen zusammengefasst.
Auslöser für die Klagen waren die Enthüllungen von Edward Snowden im Jahr 2013 zu den Überwachungsprogrammen von NSA und GCHQ. Unter anderem war so die britische Geheimdienstoperation “Tempora” bekannt geworden, in deren Rahmen der GCHQ Unterseekabel angezapft und die darüber laufende Kommunikation abgehört hatte.
Urteil europaweit bindend
Der EGMR mit Sitz im französischen Straßburg ist eine Institution des Europarats und keine Einrichtung der Europäischen Union. Das Gericht kümmert sich um die Einhaltung der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Urteile des EGMR sind für die Staaten bindend, die die Europäische Menschenrechtskonvention unterzeichnet haben. Privacy International rechnet daher damit, dass das Urteil nicht nur Auswirkungen auf Großbritannien, sondern auch auf Europa haben wird: Man erwarte, dass alle 47 Mitgliedsstaaten des Europarates nun ihre Überwachungsgesetzte prüfen und mit der Rechtssprechung des Gerichts in Einklang bringen.
Auch Constanze Kurz schrieb, die vom Gericht vorgegebenen Schutzmaßnahmen werden “allen Staaten, die Massenüberwachung betreiben, zu denken geben müssen – inklusive Deutschland. Das BND-Gesetz muss also auch abgeklopft werden.” Und weiter: “In Europa haben wir durch den Menschenrechtsgerichtshof nun die unzweifelhafte Feststellung, dass die vormals geheimen britischen Operationen des massenhaften Abgriffs von Kommunikationsdaten nach menschenrechtlichen Standards viele Jahre lang schlicht illegal waren.”
Geheimdienste rechenschaftspflichtig
Ilia Siatitsa, Rechtsdirektorin von Privacy International, sagte: “Heute hat der Gerichtshof erneut bekräftigt, dass Geheimdienste nicht auf eigene Faust, im Geheimen und ohne Genehmigung und Kontrolle durch unabhängige Behörden handeln können. Sie müssen rechenschaftspflichtig sein, denn ihre Möglichkeiten, auf personenbezogene Daten über jeden einzelnen von uns zuzugreifen – selbst wenn wir keiner Straftat verdächtigt werden – stellen in einer demokratischen Gesellschaft ernsthafte Risiken dar. Das Urteil bietet einige Puzzlestücke für einen stärkeren Schutz in der Zukunft, aber es ist nicht das Ende.”
Silkie Carlo, Direktorin von Big Brother Watch, sagte: “Die Massenüberwachung schädigt Demokratien unter dem Deckmantel der Verteidigung.” Sie fügte jedoch hinzu, der Gerichtshof habe es verpasst, klarere Beschränkungen und Schutzmaßnahmen vorzuschreiben.
Ein Regierungssprecher sagte der britischen Zeitung The Guardian, man nehme das Urteil zur Kenntnis. Der “Investigatory Powers Act” von 2016 habe bereits große Teile der damaligen Regeln ersetzt. Das Urteil bezieht sich auf die Gesetzesfassung aus dem Jahr 2000. (js)