Vietnam: Kritik an geplanter Identitätsüberprüfung
Nach Plänen der vietnamesischen Regierung müssen Nutzerinnen und Nutzer von sozialen Medien im Land künftig ihre Identität verifizieren lassen. 20 Menschenrechtsorganisationen kritisieren nun, die geplante Regelung bedrohe unter anderem die Rechte auf Meinungsfreiheit und Privatsphäre. In einem offenen Brief fordern sie die Regierung auf, den Entwurf zu entschärfen. Zu den Unterzeichnern zählen unter anderem Access Now, Article 19, Human Rights Watch und die Electronic Frontier Foundation.
Die Kritik der Organisationen richtet sich gegen geplante Änderungen am sogenannten “Decree 72”. Berichten zufolge sollen die Plattformbetreiber vollständige Namen, Geburtsdaten, E-Mail-Adressen und Handynummern von Nutzerinnen und Nutzern speichern. Wenn sich Nutzer bei den Plattformen registrieren, sollen ihre Konten über ihre vietnamesische Mobilfunknummer authentifiziert werden. Die Daten müssten auf Anfrage an vietnamesische Behörden herausgegeben werden.
Auch internationale Plattformen betroffen
Gelten sollen die Regeln sowohl für internationale als auch lokale Plattformen. Wenn Plattformen die Identitätsprüfung nicht umsetzen, droht ihnen eine Sperre in Vietnam. Auch anonyme Accounts sollen die Behörden künftig blockieren können. Die geplanten Regeln sollen Ende dieses Jahres in Kraft treten.
In ihrem offenen Brief kritisieren die 20 NGOs nun, Anonymitätsverbote schränkten die Menschenrechte unangemessen und willkürlich ein – darunter die Rechte auf Privatsphäre, Meinungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit. Diese sind durch den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (UN-Zivilpakt) geschützt, den auch Vietnam ratifiziert hat. Die Menschenrechtler warnen, Beschränkungen der Anonymität im Internet könnten eine abschreckende Wirkung haben, sodass Menschen von Meinungsäußerungen abgehalten werden. Sollten die geplanten Regeln in Vietnam in Kraft treten, verstoße Vietnam gegen seine internationalen Menschenrechtsverpflichtungen, so die NGOs.
Der UN-Zivilpakt verlange, dass Rechte nur eingeschränkt werden dürfen, wenn dies für einen legitimen Zweck unbedingt erforderlich und verhältnismäßig ist. Die Regierung begründet die geplante Regel mit dem Kampf gegen Menschenhandel und Betrug – das nennen die Menschenrechtler jedoch einen “Vorwand”. Denn die vorgeschlagenen Änderungen an “Decree 72” seien weder erforderlich noch verhältnismäßig, weil sie auf alle Social-Media-Accounts abzielen – und nicht nur auf solche, die in Verbindung zu Menschenhandel stehen. Es gebe aber auch keine Hinweise, dass die Überprüfung von Namen tatsächlich Auswirkungen auf die Häufigkeit von Menschenhandel haben würde.
Bereits im Jahr 2015 habe der damalige UN-Sonderberichterstatter für die Meinungsfreiheit festgestellt, dass pauschale Anonymitätsverbote “nicht notwendig und verhältnismäßig” seien. In seinem Bericht habe der Sonderberichterstatter schon damals auch Vietnam kritisiert, weil die Regierung private Blogs ohne Angabe von Namen und Anschrift verboten hatte.
Warnung vor Überwachung
Die Menschenrechtsorganisationen warnen darüber hinaus auch vor staatlicher Überwachung: Denn die Behörden könnten Zugriff auf eine Vielzahl von personenbezogenen Daten erhalten. Ein unabhängiges Aufsichtsgremium, das Auskunftsersuchen überprüft, gebe es indes nicht. Die Gesetzesänderung sehe auch keine Garantien für die Sicherheit der Daten vor. Es bestehe außerdem die Gefahr, dass Kriminelle die Daten bei einem IT-Angriff entwenden und missbrauchen.
Reporter ohne Grenzen (RSF) listet Vietnam in der Rangliste der Pressefreiheit auf Rang 178 von 180 Staaten. Blogger und Bürgerjournalisten seien in dem Land die einzigen Quellen für unabhängig recherchierte Informationen. Allerdings werden unabhängige Journalisten, Aktivisten und Regierungskritiker strafrechtlich verfolgt und verhaftet. Im vergangenen Jahr hatte Amnesty International Sorge vor “einer neue Welle der Repression” geäußert. Menschenrechtler sind demnach Schikanen und digitaler Überwachung ausgesetzt gewesen und es gebe Berichte über Folter sowie andere Misshandlungen “in alarmierendem Ausmaß”. Human Rights Watch spricht von einer “diktatorischen Einparteienherrschaft” in dem Land.
In ihrem offenen Brief äußern die NGOs die Befürchtung, die Behörden könnten die Überwachung der Online-Aktivitäten von Bürgerinnen und Bürgern weiter intensivieren – und Personen davon abhalten, sich online frei zu äußern.
Regierung soll Entwurf zurückziehen
Die Organisationen erklärten, Menschen müssten vor Menschenhandel geschützt werden. Die vietnamesischen Behörden müssten bei ihrem Vorhaben jedoch die Menschenrechte respektieren und gewährleisten – das federführende Informations- und Kommunikationsministerium solle den Entwurf daher zumindest “wesentlich” verändern. Die Organisationen verwiesen auf Beispiele aus zwei anderen Ländern: So hatten die Philippinen im Jahr 2022 ein ähnliches Gesetz geplant – es aber wegen Bedenken in Hinblick auf die Menschenrechte zurückgezogen. Und in Südkorea hatte das Oberste Gericht eine ähnliche Regelung bereits im Jahr 2012 für ungültig erklärt – weil sie gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung verstoßen hatte.
Auch Social-Media-Unternehmen, die in Vietnam aktiv sind, sollten sich gegen die geplante Gesetzesänderung und für den Schutz der Privatsphäre einsetzen, fordern die Organisationen.
Das vietnamesische “Decree 72” war ursprünglich im Jahr 2013 in Kraft getreten. Bereits damals hatte es scharfe Kritik daran gegeben, weil Social-Media-Nutzern verboten wurde, Nachrichtenartikel zu teilen.
Ende vergangenen Jahres waren zudem neue Regeln in Kraft getreten, wonach IT-Konzerne Daten von vietnamesischen Nutzerinnen und Nutzern auf Servern im Land speichern und lokale Vertretungen eröffnen müssen. Human Rights Watch nannte auch diese Regelung “höchst problematisch” und warnte, sie werde wahrscheinlich zu Verstößen gegen die Rechte auf Meinungsfreiheit und Privatsphäre führen. (js)